Gabriela Medici: «Diese Reform schafft mehr Probleme, als sie löst.» (Bild: zVg)

Lieber keinen Spatz in der Hand

Die BVG-Reform, über die am 22. September abgestimmt wird, sorgt für Verwirrung und heftige Debatten. Im Gespräch mit Tim Haag erklärt die Rentenchefin des Gewerkschaftsbunds, Gabriela Medici, warum die Reform ihrer Meinung nach mehr Probleme schafft als löst.

Widersprüchliche Zahlen, gehässig geführte Diskussionen, schwer abschätzbare Folgen – ist die BVG-Reform in ihrer jetzigen Form zu komplex, um das Volk darüber abstimmen zu lassen?

Gabriela Medici: Ich glaube felsenfest an die direkte Demokratie. Das Problem liegt nicht da­rin, dass das Volk nicht in der Lage wäre, die Folgen abzuschätzen, sondern darin, dass die Stimmbevölkerung erschreckend schlecht informiert wird, sowohl vom Bundesrat als auch vom Bundesamt für Sozialversicherungen. 

Versuchen wir, Klarheit zu schaffen: Wer profitiert denn nun der Ansicht des Gewerkschaftsbundes (SGB) nach von der Reform – und wer nicht?

Betroffen sind letztlich alle Arbeitnehmer:innen, denn die Reform betrifft den gesetzlichen Grundsockel der beruflichen Vorsorge, der für alle obligatorisch ist, die heute über 22 050 Franken und mit Annahme der Reform über 19 845 Franken jährlich verdienen. Hauptmassnahme der Reform ist die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent. Das bedeutet nichts anderes, als dass aus dem angesparten Kapital künftig weniger Rente ausgezahlt wird. Um die Auswirkungen der Rentenkürzungen abzufedern, werden die Beiträge, die sowohl Arbeitnehmer:innen als auch Arbeitgeber:innen in die Pensionskassen einzahlen, erhöht. Mit der Annahme der Reform haben wir also eine geringere Rentengarantie und dafür höhere Beiträge. Diese Rechnung geht nicht auf: In den offiziellen Zahlen des Bundes sieht man deshalb, dass Rentenverluste von bis zu 3200 Franken pro Jahr und zusätzliche Beiträge von bis zu 2400 Franken pro Jahr pro Arbeitnehmer:in auftreten können. Die ganz konkreten Auswirkungen variieren dann je nach Alter, Einkommen und der spezifischen Pensionskasse, und was die einzelnen Pensionskassen oder Arbeitgeber:innen genau tun werden, wüssten wir erst nach der Reform. 

Also kann man zu den Zahlen eigentlich noch gar nichts Konkretes sagen.

Jein. Man kann die allgemeine Richtung gut erkennen: Die Rentengarantien werden für die Mittelschicht abgebaut und tiefe Löhne sollen viel mehr einzahlen ohne Garantie auf höhere Rente, viele sollen mehr bezahlen als denn einmal erhalten, denn auch für sie wird der Umwandlungssatz gesenkt. Konkret: Also weniger Rente für Malerinnen, Schreiner, Bäckereiverkäuferinnen. Wir haben berechnet, dass die Reform für Personen mit einem Monatslohn über 4000 Franken zu tieferen BVG-Renten führen wird. Trotz höherer Beiträge. Und für die Menschen mit sehr tiefen Einkommen bleibt die zukünftige BVG-Rente trotz massiven Zusatzkosten oft immer noch weit unter 1000 Franken pro Monat.

Warum steigen die Renten der Menschen mit wenig Lohn nicht mehr an?

Ein Arbeitnehmer mit einem niedrigen Einkommen zahlt monatlich 200 bis 300 Franken in die Pensionskasse ein, und das über 40 Jahre. Am Ende bekommt er dann eine garantierte Pensionskassenrente von etwa 750 bis 800 Franken pro Monat. Allein die Kosten für Verwaltung betragen aber 500 Franken, hinzu kommen die Kosten für die Vermögensanlage. Alles zusammen sind das im Durchschnitt 1450 Franken pro Jahr. Das bedeutet, dass die Verwaltungskosten fast so hoch sind wie die Rente, die die Versicherten am Ende bekommen. Diese hohe Kostenbelastung im Vergleich zu den niedrigen Rentenauszahlungen zeigt die Grenzen der zweiten Säule für Menschen mit niedrigen Einkommen.

«Je mehr Geld wir in den Topf einzahlen, desto mehr kann die Finanzindustrie aus diesem Topf heraus anlegen.»

Gabriela Medici, Rentenchefin des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB)

Das führt mich zurück zur Frage, wer denn eigentlich von der Reform profitiert: Es sind diejenigen, die mit der zweiten Säule Geld verdienen. Je mehr Geld wir gezwungenermassen in den Pensionskassentopf einzahlen, desto mehr kann die Finanzindustrie aus diesem Topf heraus anlegen. Es ist kein Zufall, dass Wirtschaftsverbände und Versicherer rund 3,5 Millionen Franken für die Kampagne eingesetzt haben. 

Vor einigen Tagen hat der Zahlenstreit um die BVG-Reform eine weitere Wendung genommen, als die Sammelstiftung Proparis die Aussage ihrer Prognosen – mit denen auch der SGB gegen die Revision argumentiert hat – korrigiert. Gemäss ihrer Berechnung profitiere nun doch eine Mehrheit von der Reform.

Ja, das stimmt, wir haben uns auf diese Zahlen bezogen. Der oberste Pensionskassenexperte hat jetzt mittlerweile erklärt, was er gerechnet hat: Nämlich, dass die Reform für die Mehrheit der Versicherten mehr kostet als sie ihnen bringt. Ursprünglich hatte er gesagt, dass der Mehrheit sinkende Renten drohen. Und auch hier sind die ergänzenden Informationen von letzter Woche krass: Sie zeigen für 70 Prozent der Versicherten mit mittleren Einkommen über 50 Jahren eine direkte Rentensenkung. Obwohl sie alle dazu verpflichtet wären, 2.1 Prozent zusätzliche Lohnprozente zu bezahlen. Alle diese Berechnungen basieren ehrlicherweise aber auch auf realitätsfernen Annahmen. Zum Beispiel gehen die Zahlen des Bundes davon aus, dass eine Person ihr ganzes Leben lang den gleichen Lohn verdient, also mit 25 Jahren genauso viel wie mit 45 Jahren. Das entspricht nicht der Realität. Ähnliches gilt für die Zahlen von Proparis oder die Studie des Beratungsbüros BSS. Wir haben versucht, Klarheit zu schaffen und aufzuzeigen, was die Reform für eine typische Erwerbskarriere – also mit Lohnentwicklung – bedeutet. Laut den Daten des Bundes sinken die Renten für Leute, die mehr als 5500 Franken pro Monat verdienen. Wenn man eine realistischere Erwerbsbiografie berücksichtigt, liegt diese Grenze jedoch bei etwa 4000 Franken. Für den allergrössten Teil der Bevölkerung würden die Renten mit der BVG-Revision sinken – und wer im Gegensatz zum Status quo eine Verbesserung der Situation erleben will, muss im Tieflohnbereich bleiben. Das ist doch eine verkehrte Welt. 

Ein weiterer kritischer Punkt der Vorlage ist das Thema Übergangsregelungen. Diese haben Sie als «etwas vom Schlimmsten, was das Parlament in letzter Zeit umgesetzt hat» bezeichnet. Wieso?

Die Übergangsregelungen sind handwerklich richtig schlecht gemacht. So schlecht, dass sogar die Pensionskassenexperten, die sonst recht nüchtern und unpolitisch sind, das Parlament wenige Tage vor der parlamentarischen Schlussabstimmung mit einem Brief gebeten haben, die Reform abzulehnen. Es ist ein undurchschaubares Bürokratiemonster voller unbeantworteter und unbeantwortbaren Fragen. Das Parlament hatte ursprünglich einen sauberen Kompromissvorschlag von den Sozialpartnern, den der Bundesrat übernommen hatte. Dann haben die Parlamentarier:innen übernommen und so lange herumgebastelt, bis am Ende niemand mehr den Überblick hatte. Und jetzt haben wir den Scherbenhaufen, der dabei herausgekommen ist. Ehrlicherweise behauptet in der Branche auch niemand das Gegenteil. 

Sie sprechen von Scherbenhaufen und Pfusch, auch der Pensionskassenverband Asip gibt zu, dass die Vorlage «keinen Schönheitspreis gewinnen» werde. Wie sähe denn eine Reform, aus die den Schönheitspreis gewinnt?

Eine Reform kann nur dann einen Schönheitspreis gewinnen, wenn sie Probleme löst. Das tut die aktuelle Vorlage nicht. Erstens fehlt der Schutz vor sinkenden Renten und ein verlässlicher Teuerungsausgleich für die Rentner:innen. Zweitens gibt es ein grosses Problem bei der Effizienzkontrolle der Pensionskassen. In der Schweiz gibt es für jeden Abfallsack einen Preisüberwacher, aber niemand kontrolliert die Verwaltungskosten der Pensionskassen. Es gibt unzählige Hinweise, dass die Pensionskassen effizienter arbeiten könnten und mehr Rendite sowie höhere Renten bei geringeren Kosten möglich wären. Gut geführte Pensionskassen arbeiten teilweise zu halb so hohen Kosten wie der aktuelle Durchschnitt. Leider ist der Versuch, eine Effizienzkontrolle einzuführen, im Parlament gescheitert. Da müssten wir ansetzen. Und das Bekenntnis der bürgerlichen Politiker:innen und Arbeitgeber nutzen, um eine echte Frauenreform umzusetzen. Dafür müssen wir nicht das Rad neu erfinden, sondern können uns an der AHV-Reform von 1997 orientierten: Erziehungs- und Betreuungsgutschriften, Teilen der Einkommen zwischen Ehepartner:innen bzw. Eltern. Diese Massnahmen sind technisch problemlos umsetzbar, doch sie scheitern am Widerstand der Finanzindustrie.

Bessere Absicherung für Teilzeitangestellte, Schliessen von Rentenlücken und dadurch bessere Rentenansprüche – ist das alles keine echte Frauenreform?

Nein. Wir müssen genauer hinschauen, wieso Frauen weniger Rente erhalten als Männer. Frauen haben im Durchschnitt ein Drittel niedrigere Renten, weil sie deutlich mehr unbezahlte Arbeit leisten, in der Kinderbetreuung und im Haushalt. Der Bundesrat schätzt, dass etwa 80 Prozent der Rentenunterschiede auf den Anteil bezahlter und unbezahlter Arbeit zurückzuführen sind. Solange die Reform diese unbezahlte Arbeit nicht als rentenbildend anerkennt, wird sich an diesem grundlegenden Problem wenig ändern. Gesetzliche Verbesserungen für Teilzeitbeschäftigte sind zwar sinnvoll, aber 90 Prozent der Pensionskassen haben diese Anpassungen bereits selbst vorgenommen. Ohne Integration der unbezahlten Arbeit bleibt die Rentenlücke deshalb. Kommt hinzu: Heute verfügen rund 60 Prozent der Frauen unter 35 Jahren über einen Tertiärabschluss und werden hoffentlich in Zukunft höhere Löhne haben. Das ist grundsätzlich positiv. Aber paradoxerweise werden diese besserverdienenden Frauen durch die Reform schlechter abgesichert sein, weil sie nicht mehr in den Tieflohnbereich fallen.

Aber man kann ja nicht alle Probleme mit einer einzigen Reform lösen – oder?

Nein, aber diese Reform schafft mehr Probleme, als sie löst. Es ergibt also keinen Sinn, die Revision unter dem Motto «lieber einen Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach» anzunehmen.

Sie haben vom «genauen Hinschauen» gesprochen. Schaut die Alliance F, die die Revision unterstützt, nicht genau genug hin?

Die Allianz F vertritt die Position, dass man die kleinen Verbesserungen akzeptieren sollte, weil sonst nie etwas geändert wird. Ich verstehe den Frust darüber, dass die Rentenverbesserungen für Frauen nun seit 40 Jahren auf sich warten lassen. Aber es reicht nicht aus, nur die richtigen Forderungen zu haben, man muss auch das Gesamtbild betrachten. Nur weil einige Massnahmen sinnvoll erscheinen, sollte man nicht die Augen vor den negativen Konsequenzen verschliessen, die die Reform im Ganzen mit sich bringt. Denn hier drohen grosse Rentenverluste – gerade auch den Frauen.

Es gäbe also eine fairere Lösung, die Möglichkeiten, sie umzusetzen, wären da, den Pensionskassen geht es so gut wie nie – warum stimmen wir nicht über eine faire Reform ab?

FDP-Nationalrätin Regine Sauter, die ja für die Reform ist, hat letzte Woche auf einer Podiumsdiskussion gesagt, sie habe noch nie so viele Lobbybriefe zu einer Vorlage bekommen. In der zweiten Säule sind über 1000 Milliarden Franken, und die Finanzindustrie verdient sich dumm und dämlich damit. Darum geht es – und leider nicht um die Renten der Menschen. Zum Glück gibt es neben dem von der Finanzlobby beeinflussten Parlamentswillen noch den Volkswillen. Mit ihm können wir die Ablehnung der Vorlage erreichen.

Was geben Sie den Stimmbürger:innen, die noch nicht sicher sind, was sie stimmen sollen, auf den Weg?

Es geht um die Frage: «Darf eine Bäckerin, ein Schreiner oder ein Metzger mit einem Lohn  von 6000 Franken mit einer anständigen Rente rechnen?» Wird die Reform angenommen, sinkt die Rente dieser Leute, obwohl sie jährlich mehr Geld einzahlen. Das kann nicht die Zukunft des Schweizer Rentensystems sein. 

Wie soll die Zukunft des Schweizer Rentensystems aussehen?

Eine existenzsichernde AHV-Rente, die 2. Säule als gut ausgebaute, effiziente Mittelstandsversicherung mit Teuerungsausgleich und Solidarität – und die dritte Säule können wir eigentlich vergessen, die ist nicht viel mehr als Steueroptimierung für Reiche.