Krisen gehören zum Leben

Der Zürcher Regierungsrat hat vor zwei Jahren das Schwerpunktprogramm «Suizidprävention Kanton Zürich» lanciert. Wie wichtig die Rolle der Medien dabei ist, war Gegenstand eines Infoanlasses zur Suizidberichterstattung.

 

 

Julian Büchler

 

 

Hey, hier ist Hannah, Hannah Baker. Richtig gehört, dein – mit was auch immer du das hörst – hat keinen Wackelkontakt. Ich bin’s, live und in Stereo, keine Wiederkehr, keine Zugabe. Ich werde dir jetzt die Geschichte meines Lebens erzählen.» Die Netflix-Serie «13 reasons why» löste kürzlich in den Medien heftige Diskussionen über Suizid aus. In dreizehn Folgen beleuchtet die im Internet ausgestrahlte Serie die Hintergründe des Suizids der Schülerin Hannah Baker, romantisiert und dramatisiert den Suizid des Teenagers und bietet allem voran eins: viel Identifikationspotenzial für potenziell Suizidgefährdete. Experten kritisierten die Serie stark und warnten vor dem Risiko, dass sie eine Welle von Suizidversuchen nach sich ziehen wird.

 

Der Kanton Zürich versucht, mit dem vor zwei Jahren geschaffenen Schwerpunktprogramm Suizidprävention Menschen in suizidalen Krisen und ihr Umfeld zu unterstützen. Die Unterstützung findet auf mehreren Ebenen statt. Neben der akuten Hilfe für betroffene Personen, die bereits in der Krise stecken, fand zeitgerecht zum Welttag der Suizidprävention am 10. September eine Aktion zur Suizidverhinderung statt. Dieser vom kantonalen ApothekerInnen- und DrogristInnenverband unterstützte Beitrag weist auf die Rückgabemöglichkeit von Medikamenten hin, die noch bis Ende Monat läuft. In jeder Apotheke und Drogerie des Kantons Zürich können Medikamente zurückgebracht werden, um die Menge an nicht mehr benötigten Medikamenten in Haushalten zu reduzieren.

 

Eine weitere Ebene bilden aus Sicht der Fachleute die Medien. Um die Schweizer Medien auf deren Verantwortung aufmerksam zu machen, fand am vergangenen Freitag eine Informationsveranstaltung der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich mit anschliessendem Workshop statt. Sebastian Scherr, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der LMU München, zeigte aus Sicht der Wissenschaft eindrücklich auf, welche Auswirkungen Medienberichte haben können.

 

Der Einfluss der Medien steigt

Grundsätzlich steige der Einfluss der Medien in allen Bereichen unseres Alltages durch die stetige Verfügbarkeit, so Sebastian Scherr. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung zähle heute zur Kategorie «permanently online». Diese Menschen haben über zehn Stunden am Tag permanent Zugriff zu Medien in Form von Zeitung, Fernsehen und Internet. Vor allem das Internet mit den aufkommenden Onlinemedien habe diesen Anstieg der permanenten Verfügbarkeit mitverursacht. Somit beschränken sich Suizidberichterstattungen nicht mehr nur auf Print-Produkte, sondern können auch auf dem Smartphone eines jeden abgerufen werden.

 

Phänomen der Nachahmung

Nach der Veröffentlichung des Briefromans «Die Leiden des jungen Werthers» im Jahre 1774 von Johann Wolfgang von Goethe stieg die Suizidrate junger Männer drastisch an. Besonders markant – die meisten jungen Männer nahmen sich auf exakt die gleiche Weise das Leben wie der Titelheld der Erzählung. Es schien, als würden sie ihn nachahmen wollen. Das Phänomen ist seither bekannt und wurde weiter erforscht. Man fand heraus, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Suizidberichterstattung und den danach steigenden Suiziden besteht. Im Jahre 1987 beschloss die Stadt Wien zusammen mit den städtischen Verkehrsbetrieben sowie den Medien, nicht mehr über U-Bahn-Suizide zu berichten. Frappant: Die Suizide und Suizidversuche gingen bereits im ersten Jahr danach um mehr als die Hälfte zurück.

 

Je detailreicher, desto schlimmer

Nicht nur die Berichterstattung an sich, sondern auch deren Form und Inhalt hätten einen grossen Einfluss, so Scherr weiter. «Einzelne Faktoren sind massgeblich entscheidend: Zu einem besonders steilen Anstieg der Suizidrate kommt es beispielsweise, wenn es sich um Personen handelt, die möglichst viel Identifikationspotenzial bieten.» Details zur Person wie deren Alter, Hobby, Schulsituation vereinfachen es für uns Menschen, eine Beziehung zu dieser uns fremden Person aufzubauen. Besonders beliebt in Boulevardmedien sei der Versuch, spekulative Gründe für den Suizid zu recherchieren. «Oft konzentriert sich ein Artikel dann auf ein bis zwei Auffälligkeiten, was einen völlig falschen Eindruck entstehen lässt. Suizide sind ein multikausales Phänomen, dessen Ursachen sehr komplex sind.» Scherr warnt, dass durch die Herabsetzung auf ein bis zwei Gründe ein Suizid von Betroffenen als Lösung interpretiert wird. «Viele Jugendliche haben beispielsweise Probleme mit Mobbing, nehmen sich deswegen aber noch lange nicht das Leben.»

 

Grundsätzlich unterliegt der Tod eines jeden Menschen dessen Privatsphäre. Zu deren Schutz und aus ethischer Sicht sollte gar nicht über Suizide berichtet werden. Caspar Selg vom Schweizer Presserat wendet ein, dass auch bei einem Suizid öffentliches Interesse bestehen könne. Was öffentliches Interesse und was reine Neugierdebefriedigung der LeserInnen darstelle, sei ein schmaler Grat. Ob auf die Berichterstattung über Suizide generell verzichtet werden soll, ist man sich auch unter Wissenschaftlern nicht einig. Der Sozialmediziner Thomas Niederkrotenthaler und seine Kollegen der Medizinischen Universität Wien entdeckten einen Zusammenhang zwischen Zeitungsartikeln über vollendete und verhinderte Suizide und den Suizidraten kurz nach den Publikationen. Sie konnten einerseits den Werther-Effekt bestätigen, beobachteten aber bei gewissen Suizidberichten einen Rückgang der Suizidraten. Bei Berichterstattungen über Personen, die von der erfolgreichen Überwindung ihrer suizidalen Krise berichteten, sank die Rate. Die Forscher bezeichneten diese Beobachtung als «Papageno-Effekt», eine Hommage an die Szene in Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Zauberflöte».

 

Scherr rät den Medien aufgrund der heutigen Erkenntnisse, sich Suizidthemen aktiv zu widmen, um so einen wichtigen Beitrag zur Prävention zu leisten. Und auch aus Amerika gibt es News – die MacherInnen von «13 reasons why» gaben bekannt, eine zweite Staffel zu planen. Bleibt zu hoffen, dass sie vorher das P.S. gelesen haben…

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