- Gedanken zur Woche
«Konsens, scho ghört?»
Die Jungen hatten recht, als sie vor zwei Jahren analysierten, die sich zugespitzt habende Gehässigkeit in der Wortwahl wie im Tonfall wie der Absolutheit der Forderungen sei Ausdruck grösster Unsicherheit der noch jüngeren, weil diese den inneren wie äusseren Prozess eines Coming-outs eben erst durchlebt und darum noch keine Zeit gehabt hätten, sich eine gelassene(re) Distanz(iertheit) gegenüber Anwürfen aller Art anzueignen. Die Kreidelettern «Konsens, scho ghört?», die am frühen Samstagmittag auf der Strasse zu lesen waren, widerspiegeln den sich seither verändert habenden Diskurs schön. Ob diese positiv und konstruktiv konnotierte Aufforderung zur Besinnung noch vom Vorabend des Frauenstreiks stammte oder ob sie eine Person im Zuge der Pride-Parade eben erst hingekritzelt hat, ist dabei überhaupt nicht von Belang.
Sämtliche emanzipatorischen Bestrebungen für eine Sichtbarkeit in Sicherheit und auch die Verteidigung dessen, was an Fortschritten bereits erstritten worden ist, müssen intersektional gedacht werden, forderte Tamara Funiciello in ihrer Rede auf der Landiwiese. Sie erinnerte daran, dass die LGBTQIA+-Community auf den Schultern von Schwarzen trans Personen stehe, die im ‹Stonewall Inn› an der New Yorker Christopher Street 1969 einen handfesten Aufstand gegen die Polizeigewalt und -willkür anzettelten und damit die moderne, kämpferische Emanzipationsbewegung begründet hatten. Daraus allerdings in einem Kurzschluss die Kritik abzuleiten, die aktuelle Polizeipräsenz während einer friedlichen, politischen Parade von Zehntausenden als potenziell bedrohlich einzustufen und die Trägerin des Gewaltmonopols zum Rückzug aufzufordern, zeugt weit weniger von Geschichtsbewusstsein als behauptet. Es müssen dafür nicht die fürchterlichen Bilder aus Belarus, Polen oder Georgien vor wenigen Jahren beliehen werden, als die dortige Ordnungsmacht mit den Aggressor:innen gegen die Demonstrierenden vorgingen, anstatt sie gegen die hassgetriebenen Angreifer:innen zu verteidigen. Zentrale Gefahren lauern im politischen Rechtsruck und der damit verbundenen Hetze gegen alles ‹Andere›. Die drei Beispiele von öffentlich geäusserten ‹Wahlversprechen› der reihum gerade wieder Oberwasser gewinnenden Rechtsparteien in Zentraleuropa «Rassemblement National» (Homosexualität als Anomalie einzustufen), «Fratelli d’Italia» (lesbischen Müttern die Kinder wegzunehmen) und «Alternative für Deutschland» (die «Ehe für Alle» wieder einzustampfen), die Tamara Funiciello in ihrer Rede erwähnte, sind natürlich nur die Spitze des Eisbergs. Aber sie mögen als ein Fitzelchen der Ursachen für die reihum steigende Bereitschaft, Gewalt gegen Personen anzuwenden, miterklären können.
Demgegenüber scheint in der Mitte der Gesellschaft die Bereitschaft zur Anerkennung von einem nicht selber betreffenden Anliegen zu steigen. Wenn die Präsidentin der Mitte-Frauen Christina Bachmann-Roth in der SRF-Arena zur Nonbinär-Debatte nach Nemos ESC-Triumph konstatiert, «die Kinder sind nicht das Problem, wir Erwachsenen sind das Problem», trifft sie einen Nagel auf den Kopf. Und signalisiert mit ihrer um Ausgewogenheit bemühten Abwägung der im Einzelfall involvierten Interessen, das dahinter befindliche Anliegen anzuerkennen und den sich daraus ergebenden Fragenkomplex per se ernst zu nehmen. Eine kritische Skepsis auf dem Weg zur Einigung ist konstruktiv. Im Segelsport etwa besteht ein komplexes Rechenregelwerk, um eine grösstmögliche Fairness für die Bewertung der Leistung von sämtlichen Teilnehmenden herbeiführen zu können. Das Resultat steht dann vielleicht etwas später als der eigentliche Zieleinlauf fest, aber der Grund, jemanden allein kategorisch vom Bewerb auszuschliessen, wird hinfällig. Dito im Golf. Wieso soll so etwas in der Leichtathletik unter der Berücksichtigung von trans Personen nicht möglich sein? Die Toilettenfrage ist primär eine des Willens und des Geldes. Nicht nur die ETH und das Bundeshaus mussten sanitarisch umgerüstet werden, weil sich Frauen darin etabliert hatten und die praktische Berücksichtigung ihrer identischen Bedürfnisse wie die der Mannen reklamierten. Wieso soll eine dritte Variante dieser Bedürfnisanstalt in beispielsweise Schulhäusern nicht möglich sein? Auch die Erhebung von geschlechterspezifischen Gewaltanwendung, die Art der Forschung beispielsweise im Bezug auf Fragen der Gesundheit, die Sensibilisierung für die Notwendigkeit der Berücksichtigung der reinen Existenz einer breiteren anatomischen Vielfalt als dem cis Mann allein, wird vorwiegend aus pekuniären Gründen als nicht machbar/vordringlich/naheliegend abgewehrt. Michelle Halbheer, Co-Präsidentin Mitte Kanton Zürich, fasste es in ihrer Rede auf dem Helvetiaplatz so zusammen: «Nur weil niemand die Langzeitstudien über den Einfluss von Transitionsmedizin (inkl. Pubertätsblockern) finanziert, bedeutet das nicht, dass es den (positiven) Effekt nicht gibt. (…) Tatsache ist: Für viele ist sie überlebenswichtig.» Und an die LGBTQIA+-Community gerichtet, ergänzte sie: «Alle profitieren davon, wenn Einzelteilen der Community ein Schritt vorwärts gelingt.» In Richtung Gesamtgesellschaft gedreht, rückt wieder Tamara Funiciellos Solidarappell der Intersektionalität vor Augen. Vielleicht hilft den sich querstellenden bereits älteren cis Schwulen die Gedankenkrücke, dass das diesjährige Pride-Motto mit der Forderung nach rechtlichem Schutz für sämtliche Beziehungskonstellationen eine nicht unerhebliche Verwandtschaft mit dem Selbstverständnis schwulen Lebens in den 1970er-Jahren aufweist, als Schwulsein auch die sexuelle Befreiung aber darüber hinaus vornehmlich die Abkehr von einem normierten Lebensentwurf meinte und sich als eine mögliche Alternative präsentierte. Gemeinsamkeiten sind da, vielleicht braucht ihr Erkennen einen gewissen Effort. In der aktuellen Gemengelage scheinen die Anzeichen grossmehrheitlich pro Konsens zu stehen, was nicht kritiklose Harmoniesauce meint. Sondern ein empathisches, einander zugeneigtes Ringen um Lösungen. Die leider meist auch etwas kosten. Aber das ist bloss Geld. In der SRF-Arena wirkte das Mimimi der SVP-Vertreterin als ein trotziges Stänkern auf verlorenem Posten, das sich gerade darum verschärft zuspitzend äussert, weil dem Davonschwimmen der Felle der eigenen Deutungshoheit in Echtzeit zugesehen werden kann. Im Fussvolk, am Stammtisch der Büezerbeiz ist die Dialogbereitschaft mit andersdenkenden meist als intakt erlebbar. Es wäre also auch an den sich für vernunftbegabt haltenden liberalen Hochburgen wie den Zünften und Serviceclubs der gesellschaftspolitisch weitaus grössere Offenheit ein Ohr zu schenken und sich den Effort zu leisten, ein langjährig bestehendes Urteil entlang einer in sich stimmigen und dringlichen Argumentation auf seine Haltbarkeit hin zu überprüfen. Eine Neuinterpretation von Sinnhaftigkeit folgt dann sicher auf dem Fusse. Selbiges gilt für die Stimmen, die eine Pride ohne politische Forderungen für sinnvoll halten. Das wäre so paradox wie das Gründen einer Bank, die sich nicht für Geld interessiert.