Kommentarspalten

Natürlich kann man argumentieren, es sei generell verschwendete Zeit, Kommentarspalten zu lesen. Aber nachdem zum Gaza-Krieg vermutlich alles schon geschrieben und gesagt wurde, was sich von der heilen Schweiz aus überhaupt schreiben und sagen lässt, mach ich das halt manchmal dennoch. Und wundere mich. Zunächst einmal über die Emotionalität der Debatten. Man könnte meinen, alle seien direktbetroffen. Was die einen auch sind, aber gewiss nicht alle. Dennoch wird verbittert ausgeteilt und belehrt. Wird etwa ins Feld geführt, der Staat Israel verletzte Völkerrecht oder UNO-Konventionen, wird subito eingewendet, das sei nicht nur einseitig, sondern auch eine grobe Verallgemeinerung und damit falsch und damit auch noch antisemitisch. Und das stimmt vielleicht sogar – aber es entkräftet den Vorwurf selber nicht. Dieses Grundmuster zieht sich durch. In den Kommentarspalten spricht man nicht miteinander, man argumentiert nicht einmal, sondern man tauscht Adressen aus. Wozu eigentlich?

Ich glaube auch, dass zum Beispiel Antisemitismus in unserer Kultur nicht nur eine lange Tradition, sondern eine geradezu konstitutive Komponente hat. Ein Blick auf die Geschichte aus der Sicht des Papsttums – wobei die Reformation damit nicht aus dem Schneider ist, im Gegenteil, wenn wir nur schon an Luther denken! – oder ein bisschen Lektüre des Kirchenkritikers Karlheinz Deschner sprechen da Bände. Die christliche Kultur, die sich auf einen als Erwachsenen getauften Juden beruft, scheint da, wenn ich das mal sehr salopp küchenpsychologisch formulieren darf, ein paar Abgrenzungsprobleme zu haben. Aber das nützt mir nun auch nichts, wenn Antisemitismus als Vorwurf aus den Kommentarspalten dröhnt, wie zum Beweis dafür, dass alle Angehörigen der hiesigen Kultur ohnehin falsch an den Gazakonflikt herangehen. Wahr oder Falsch sind nicht immer Kategorien, die weiterhelfen, und hier genügen sie auch nicht als Handlungsanweisung. Ein Rezept gegen unseren realen wie den unterstellten Antisemitismus habe ich in all den Monaten nirgends gelesen.

«Richtig» benehmen kann man sich in Kommentarspalten im Moment ohnehin nicht. Man kann «ausgewogen» sein – und setzt sich damit sofort dem Vorwurf des Bothsideism aus (doch, das gibt’s, und wie!, aber eher bei anderen Themen). Man kann empathisch sein oder historisch fundiert, aber auch das nützt nichts. Man kann für eine Ein- oder eine Zweistaatenlösung plädieren (und alle wissen, dass es die eine oder die andere sein muss), aber auch das wird als falsch gebrandmarkt, weil beide Lösungen Lichtjahre von der Realität entfernt sind. Jede Haltung scheitert an der Realität in Gaza. Dieser Konflikt, der sich in einer unendlichen Abfolge von Ursachen und Wirkungen schon so lange hinzieht, dass jegliche Debatte darüber hilflos und manchmal auch sinnlos erscheint, ist einzigartig. Und Versuche, die Kette zu durchbrechen, wie das etwa Jitzchak Rabin 1995 wollte, wurden in der Logik des Krieges, hier durch ein tödliches Attentat eines rechtsextremen Studenten, abgewürgt. Die Unmöglichkeit eines rationalen Diskurses ist das Schlimmste an der Entwicklung. Man sieht sie den Kommentarspalten an.

Aber vermutlich geht es in Kommentaren auch nicht darum, sondern um die Möglichkeit, sich überhaupt öffentlich äussern zu können. Und so ganz falsch ist das ja auch nicht, wenn wir an die nicht aufgearbeitete Geschichte mit der Pandemie denken, deren Spätfolgen uns heute noch in einer ausgewachsenen Volksabstimmung heimsuchen.