Knapp und deutlich, aber verkehrt herum

Der Abstimmungssonntag wurde zum Krimi – aber anders als gedacht. Als ich um viertel vor zwölf im Radiostudio Bern eintraf, hiess es, die Abstimmungshochrechnung würde bei der E-ID einen Trend vorhersagen und beim Eigenmietwert werde es knapp. So weit, so gut, dachte ich. Bis mir fünf Minuten später beschieden wurde, dass es genau umgekehrt war. 

Man merkte es wohl sowohl uns beiden Gesprächsteilnehmerinnen – ich war mit Monica Amgwerd, der Kampagnenleiterin der Nein-Kampagne zur E-ID im Studio – als auch dem Journalisten an, dass wir alle nicht ganz mit dieser Ausgangslage gerechnet hatten. 

Auf der Linken hatten wir gehofft, dass die Vorlage zum Eigenmietwert noch kippen könnte, bei der E-ID gingen wir von einem Sieg aus. Jetzt hat es bei der E-ID ganz knapp gelangt, beim Eigenmietwert wurde es aber deutlich. 

Es zeigt sich einmal mehr: Umfragen sind Momentaufnahmen, keine Prognosen, und man darf sich darauf auch nicht verlassen. Dennoch geben sie gewisse Hinweise, so beispielsweise in der Nachbefragung von LeeWas für Tamedia. Dort zeigte sich: Beim Eigenmietwert waren fast alle dafür: Nur SP- und Grüne-Wähler:innen waren dagegen, bei den Grünen war es aber nur knapp mehr als die Hälfte. Für die Abschaffung waren vor allem das Land, in den Städten und in der Westschweiz wurde die Abschaffung des Eigenmietwerts abgelehnt. Die Abschaffung erhielt in allen Altersgruppen eine Mehrheit, aber besonders deutlich bei den über 63-Jährigen. Auch mit zunehmenden Einkommen steigt die Zustimmung. Das entspricht auch ungefähr der demographischen Gruppe, die am meisten von der Abschaffung des Eigenmietwerts profitiert. Das Argument, das am meisten gezogen hat, war dasjenige mit dem sogenannt «fiktiven Einkommen», das mit dem Eigenmietwert besteuert wurde.
62 Prozent nannten dies als das Argument, das sie am meisten überzeugt hat. An zweiter Stelle, aber mit grossem Abstand und mit 17 Prozent, wird die Belastung der Rentner:innen genannt. Ganz offensichtlich hat es eine grosse Mobilisierung auf dem Land gegeben, die sich hier klar für die Abschaffung des Eigenmietwerts entschieden hat. 

Es ist der vierte Anlauf zur Abschaffung des Eigenmietwerts. Bis anhin sind diese immer abgelehnt worden. Denn zum einen gibt es einen klaren Widerstand der Kantone, denen jetzt grosse Steuerausfälle drohen, und die Mehrheit der Schweizer:innen sind keine Wohneigentümer:innen, sondern wohnen zur Miete. Warum hat es jetzt dennoch geklappt? 

Einige Vermutungen dazu: Die Abstimmung wurde lange von den Gegner:innen unterschätzt, der Widerstand kam zu spät, insbesondere derjenige der Kantone. Auch der Mieter:innenverband hielt sich relativ vornehm zurück, weil er – aus nicht ganz erfindlichen Gründen – grundsätzlich einen Systemwechsel befürwortete. Das Resultat ist eine ärgerliche und vermeidbare Niederlage, die zu hohen Steuerausfällen führen wird, während eine relativ kleine, ohnehin privilegierte Gruppe nun von Steuersenkungen profitieren kann.

Die Debatte, die man nicht führte aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, ist, warum es denn eine Staatsräson sein sollte, dass Rentner:innen möglichst lange und vermutlich noch alleine in ihrem Einfamilienhaus bleiben sollten. Nun kann man selbstverständlich finden, dass Wohnen ein Menschenrecht ist und die eigenen vier Wände weit mehr als die Befriedigung materieller Bedürfnisse bedeuten. Aber warum das dann nicht für Rentner:innen gelten soll, die nach Jahrzehnten aus einer Mietwohnung vertrieben werden, habe ich leider noch nicht ganz begriffen. Weil es da offenbar kein Menschenrecht ist, im gleichen Quartier weiterwohnen zu dürfen.

Die Mobilisierung auf dem Land hat sicher auch zum knappen Ergebnis bei der E-ID geführt, die nur dank dem Ja der Städte eingeführt wird (eine Stimmrechtsbeschwerde ist noch hängig). Die E-ID stiess auf grosse Zustimmung bei GLP und etwas weniger bei der SP. Auch die Mehrheit von Wähler:innen der FDP und Mitte stimmten zu, wenn auch weniger deutlich. Deutlich abgelehnt wurde sie von der SVP, die auch die Nein-Parole beschlossen hat. Interessanter ist da das verhältnismässig knappe Ja der Grünen (53 Prozent), obwohl die Grünen den Lead bei der Abstimmungskampagne hatten und mit dem Grünen-Nationalrat Gerhard Andrey eines der Gesichter der Ja-Kampagne stellten.

Die E-ID wurde von der konservativen Landbevölkerung abgelehnt, aber auch von der Mehrheit der Frauen, und stiess auch auf Misstrauen bei Einkommensschwachen. Die Gründe für die Ablehnung mögen also sowohl darin liegen, dass ein Teil dem Bund keine IT-Projekte zutraut, aber vor allem auch bei einem Grundmisstrauen gegen Digitalisierung und einer Angst vor Datenmissbrauch durch Private und den Staat, was auch von den Gegner:innen klar bewirtschaftet wurde. Gleichzeitig hat die Pro-Kampagne auch zu wenig klar machen können, wozu es die E-ID überhaupt braucht.

Dieses Grundmisstrauen gegen die Digitalisierung, aber zu einem Teil auch gegen die Behörden – die E-ID wurde ja von allen Parteien ausser der SVP, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft getragen –, muss man durchaus ernst nehmen. Weitere Digitalisierungsvorhaben, die weniger breit abgestützt sind, drohen demnach zu scheitern, wenn das nicht angegangen wird. Das Misstrauen ist auch angesichts der wirtschaftlichen und politischen Dominanz der Tech-Oligarchie nicht unberechtigt. Schade aber, dass man seine Missbilligung an einem Projekt ausgelebt hat, das gerade explizit als Gegenprojekt dazu gedacht ist: nicht gewinnorientiert, datensparsam und demokratisch.

Zu guter Letzt weiss ich nicht, ob es an mir liegt oder an dieser spezifischen Abstimmung, aber ich habe praktisch keine Kampagne wahrgenommen – und ich würde mal behaupten, ich bin eher überdurchschnittlich an Politik interessiert. Trotz sieben Millionen Franken, die der Hauseigentümerverband investiert hat, könnte ich das Sujet ihrer Abstimmungskampagne nicht wiedergeben. Die E-ID habe ich wohl nur mitbekommen, weil ich da Teil des Pro-Komitees war. Der kantonale und städtische Abstimmungskampf ging grossmehrheitlich an mir vorbei. Nun scheint es tatsächlich so, dass sowohl Hauseigentümerverband als auch E-ID-Gegner:innen ihre Kräfte aufs Land konzentriert haben, was sowohl ökonomisch als auch politisch durchaus effizient ist. Aber es könnte auch mit dem digital bedingten Schwinden des gemeinsamen öffentlichen Raums zu tun haben. Ein Beispiel dafür: Mein Mann hat auf Instagram etliche Beiträge zur kantonalen Klimavorlage gesehen – ich abgesehen von einem Video gar nichts. Dafür hatte ich praktisch ständig Beiträge zur Solothurner Kita-Abstimmung in meinem Feed. Das ist ziemlich beispielhaft für unsere unterschiedlichen politischen Schwerpunkte, aber wird wohl auch bei Anderen eine Realität sein. Es bleibt also die immer schwieriger gewordene Frage, wie man in einem Zeitalter von immer kaputteren Informationssystemen überhaupt jemanden erreicht. Aber dazu später mehr.