Kirchen zur Verantwortung ziehen

Welche Friedensverantwortung haben Religionen? Im Anschluss an ihre Generalversammlung vom 22. März lud die ökumenische Bildungsinstitution Plusbildung fünf Leute ein, um diese Frage zu debattieren.

 

 

Leonie Staubli

 

 

Eine interessierte Schar erwartete am Donnerstag, 22. März die Referentin Silke Lechner und vier weitere Gäste zu der von Plusbildung organisierten Debatte. Lechner ist stellvertretende Leiterin des Arbeitsstabes «Friedensverantwortung der Religionen» im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland in Berlin – und um genau dieses Thema drehte sich die Diskussion an diesem Nachmittag. Neben Lechner debattierten Regierungsrätin Jacqueline Fehr, der Leiter des Arbeitsbereichs «Religion, Politik, Konflikte» im EDA Jean-Nicolas Bitter, der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller und Thomas Wipf, Präsident des European Council of Religious Leaders.

 

Den Anfang macht Lechner mit einem kurzen Input-Referat. Darin beschreibt sie, wie Religionsgemeinschaften schon bei vielen Konflikten eine wichtige Rolle für die Lösung gespielt haben. Ausserdem spricht sie über die Zusammenarbeit von Staat und Religionen und merkt dabei an, dass in ihren Augen die Schweiz mit dem Ressort «Religion, Politik, Konflikte» als erstes Land eine Religionsperspektive in ihr Aussenministerium (bei uns das EDA) integriert habe. Auch der Arbeitsstab «Friedensverantwortung der Religionen» in Deutschland setze auf das friedenspolitische Potenzial weltweit. Es geht Lechner zufolge darum, «nicht nur danach zu fragen, welchen Beitrag Religionen zum friedlichen Miteinander von Gesellschaften leisten können, sondern auch, welche Verantwortung sie haben, diesen tatsächlich zu erbringen.» Gerade heutzutage, wo die internationale Vernetzung von Religionsgemeinschaften ein hohes Potenzial birgt, stehe diese von politischer Seite verstärkt in Nachfrage. Dazu meint Lechner: «Genau wie Kirchen und Religionsgemeinschaften immer wieder die Politik zu Recht kritisieren und herausfordern, kann das auch andersherum sein. Auch die Politik kann die Kirche herausfordern und sie an die Verantwortung erinnern.»

 

Konflikt und Frieden

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf geht es nun in die von Plusbildung-Präsident Walter Lüssi moderierte Debatte. Auf eine erste Frage nach dem Stellenwert der Religionsvertreter im Kanton Zürich antwortet Regierungsrätin Fehr, dass das Gespräch zwischen diesen und dem Kanton relevanter und ernsthafter werde. Kirchenratspräsident Müller hingegen kritisiert, dass der Staat und die Gesellschaft das Gespräch mit der Religion verlernt haben – Religion gelte als überwundenes Stadium der Menschheit und der Bund müsse die Kommunikation mit der Religion neu erlernen – doch der Kanton Zürich sei darin auf einem guten Weg.

Als nächstes wandert der Fokus zu Bitter und dem Arbeitsbereich «Religion, Politik, Konflikte». Dieser wurde gegründet, damit das EDA einen neutralen Weg finden kann, mit religiösen KonfliktakteurInnen umzugehen. Dabei ist es besonders wichtig, alle an einem Konflikt beteiligten Parteien miteinzubeziehen. Die politische Kultur der Schweiz sei dabei sehr nützlich, sagt Bitter. Auf die Frage, warum seine Abteilung sich im Titel auf Konflikte beziehe, statt auf Frieden, was der Arbeit einen positiveren Grundton verleihen könnte, antwortet Bitter, Frieden sei «ein passe-partout-Wort»; ein Füllwort also, das oft keinen tieferen oder spezifischen Sinn habe, sondern einfach gern an vielen Stellen eingefügt werde. Der jetzige Titel hingegen zeige, worauf der Arbeitsbereich sich eigentlich konzentriert – nämlich darauf, Konflikte in Nicht-Konflikte zu transformieren. Auf die positive Anwendung des Wortes gehen auch die anderen ein, wie etwa Müller, der von einem «friedlichen Streiten» spricht. Dass dies hier überhaupt möglich ist, liegt an der politischen Struktur der Schweiz, so Müller: «Auch die Religionen leben von Voraussetzungen, die sie nicht selber schaffen – zum Beispiel der Religionsfreiheit.» Fehr weist indessen auf das Gegenteil hin, eine negative Besetzung des Wortes Frieden, das etwa im Fall Sri Lanka zur Anwendung kam; das Land wurde «gefriedet», wobei die Zustände dort heute noch alles andere als friedlich sind. Fehr spricht damit auch an, wie Religion häufig als Legitimierung für Krieg missbraucht wird. Dieses Problem formuliert Wipf allgemeiner, als die «nationale Vereinnahmung der Religion». Er ist überzeugt, dass die ReligionsvertreterInnen erst dann in Partnerschaft zusammenarbeiten können, wenn sie unabhängig aufeinander zugehen und so ihr Friedenspotenzial entdecken. Bitter merkt daraufhin noch an, dass die Situation in unserem Land, wo wir keine drängenden Probleme haben und Grundrechte beachten, natürlich eine andere sei, und dass diese Voraussetzungen sich nicht auf andere Situationen übertragen lassen.

 

Verbote und Erwartungen

Auch im Weiteren wird das Miteinander der verschiedenen Religionsgemeinschaften hervorgehoben und die Wichtigkeit von Verständnis und Inklusion betont. So hält Lechner die Entscheidung einiger deutscher Universitäten, einen islamischen Lehrstuhl einzurichten, für eine der wichtigsten der letzten Jahre. Fehr spricht die Zweischneidigkeit des Absolutismus in den Religionen an; dieser enthalte nämlich einerseits etwas Leitendes, Orientierendes, das dafür sorgt, dass etwa Einwanderern die Integration an einem neuen Ort leichter fallen kann; andererseits berge er das Potenzial der Ausschliessung. Damit wird auch das Thema des Minarettverbots angeschnitten. Bitter beschreibt dieses als «Unfall» und meint, dass solche Probleme aus einem Gefühl der Bedrohung von aussen resultieren – ein Punkt, der wiederum die Bedeutung von Kommunikation und gegenseitigem Verstehen unterstreicht. Müller sieht es etwas pragmatischer. «Das Minarettverbot hindert ja keinen Muslim an seiner Religionsausübung», findet er; das Verbot sei zwar durchaus unglücklich, aber ein System zu haben, in dem man solche Fragen öffentlich diskutieren und darüber abstimmen kann, hält er für bedeutsamer.

 

In einer letzten Frage will Lüssi von den Debattierenden wissen, welche Erwartungen sie an die Bildungsfachleute im Bereich Religion haben. Müller als ehemaliger Religionslehrer meint, dass seine Erwartungen eigentlich bereits erfüllt werden; die Herausforderung liege darin, die Kinder und Jugendlichen überhaupt zu erreichen und dafür Unterstützung von bildungspolitischer Seite zu bekommen. Fehr betont, dass Religion nicht zu einem Tabuthema werden darf, da wir ohne ein Verständnis dafür unsere eigene Gesellschaft, Geschichte und Kultur nicht mehr nachvollziehen können. Bitter wünscht sich ein Studienfach über Religion und globale Führungssysteme und Lechner nutzt das Schlusswort, um noch einmal die Wichtigkeit von Interreligiosität und internationalen Perspektiven zu unterstreichen. All dies sei jetzt umso brisanter, da die Demokratie von verschiedenen Seiten immer wieder hinterfragt wird.

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