Keine Beobachter

Vor knapp drei Jahren sorgte eine Studie für Schlagzeilen und einen hämischen Artikel von Bettina Weber in der ‹Sonntags-Zeitung›. Diese hatte europaweit die Einstellungen der Menschen untersucht und war zum Schluss gekommen, dass die affektive Polarisierung steigt. Mit affektiver Polarisierung ist vereinfacht gemeint, dass man zur Gruppe jener, die die eigenen Einstellungen teilen, eine positive Haltung und zu den anderen eine negative Haltung hegt. Das ist soweit letztlich unspektakulär, eine steigende Polarisierung wurde vielerorts diagnostiziert und dass diese mit einem gewissen Unverständnis mit den anderen Positionen einhergeht, liegt in der Natur der Sache. Klar unterschiedliche Positionen sind ja auch nicht per se schlecht für die Demokratie. Was aber die ‹Sonntags-Zeitung› besonders hervorhob, war etwas anderes: Zur affektiven Polarisierung neigten laut Studie eher jene, die urban, gebildet und links waren. Oder in den Worten von Bettina Weber: «Heisst: Jene, die gemeinhin als tolerant und offen gelten und sich auch selbst gerne so sehen, sind es eben gerade nicht. Andersdenkenden gegenüber grosszügig zeigen sich dafür jene mit einer konservativen Haltung, die auf dem Land wohnen und über weniger Geld und Schulbildung verfügen.» Die Linken sind also intolerant, die Rechten nicht.


Schweizer Studien bestätigten dieses Bild indes nicht (ohne, dass die ‹Sonntags-Zeitung› gross darüber berichtet hätte). Gerade jüngst ist eine Studie erschienen, die der Think Tank Pro Futuris der Schweizerischen Gemeinnützigen Stiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Bern durchgeführt hat. Diese stellt fest, dass Schweizerinnen und Schweizer grundsätzlich eine grosse Bereitschaft haben, sich auch mit politisch Andersdenkenden auszutauschen. Aber: Sympathien und Antipathien sind nicht gleich verteilt. SVP-Wähler:innen werden zwar durchs Band von den anderen als weniger sympathisch betrachtet, mögen aber ihrerseits auch keine anderen Wähler:innen. Insgesamt haben SP- und Grünen-Wähler:innen ein besseres Bild von SVP-Wähler:innen als umgekehrt. Gerade die Grünen sind besonders unbeliebt bei Wähler:innen von rechts. Das Gleiche gilt für die Stadt- und Landbevölkerung: Städter:innen mögen die Landbevölkerung mehr als umgekehrt. Sympathisierende von SVP und FDP sehen die Städte eher negativ. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei religiösen Minderheiten. Diese werden von Wähler:innen von SP und Grünen positiver bewertet als von Wähler:innen von SVP und FDP. Dies gilt nicht nur für Muslim:innen, sondern auch für Jüd:innen. Ebenfalls gibt es generell gewisse Antipathien gegen gewisse Gruppen, die stark im öffentlichen Fokus stehen, wie Asylsuchende und nonbinäre Personen. Diese sind aber grösser insbesondere bei Wähler:innen von rechten Parteien. Die Reichen (das oberste Prozent) sind hingegen bei allen ziemlich unbeliebt. Das Vertrauen in die Institutionen ist sehr unterschiedlich, ein hohes Vertrauen geniessen Wissenschaft, Polizei und Justiz. Wenig Vertrauen haben die Schweizer:innen hingegen in religiöse Institutionen, Medien sowie politische Parteien. Insbesondere das Misstrauen gegen die Medien ist stark ausgeprägt und zwar unabhängig vom politischen Spektrum.


Was mir aber bei der Lektüre und der Rezeption dieser und ähnlicher Studien immer wieder auffällt ist, wie unbeteiligt sich jene geben, die einen wesentlichen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs haben. Medienschaffende, Politiker:innen oder Aktivist:innen scheinen oft zu glauben, die öffentliche Meinung entstehe irgendwie im luftleeren Raum. Als seien sie nicht selber beteiligt daran, wie Menschen die Welt und die Problemlage wahrnehmen. Logisch hat die Mehrheit der SVP-Wähler:innen kein gutes Bild von der EU und von Asylsuchenden, schliesslich setzt die Partei seit Jahrzehnten auf diese Themen. Und dass auch die Städte unbeliebter werden, ist eine direkte Folge dieser Kampagnen. Dass dies über die SVP-Wählerschaft hinaus schwappt, erstaunt auch kaum, wenn man den öffentlichen und veröffentlichten Diskurs der letzten Jahrzehnte betrachtet.


Eine Zeitlang war innerhalb der Linken der italienische Marxist Antonio Gramsci und seine Theorie der kulturellen Hegemonie sehr in Mode. Diese besagt, dass Hegemonie oder Macht dadurch errungen wird, indem erst die Deutungshoheit in Kultur und Gesellschaft erreicht wird. In den letzten Jahren scheint aber, als verfolge vor allem die Rechte diese Strategie. Zentristische und teilweise auch Mitte-Links-Parteien tendieren eher dazu, die Politik machen zu wollen, die gerade in der Öffentlichkeit populär ist und nicht unbedingt dazu, die Menschen in ihre Richtung zu überzeugen. Gerade den US-Demokraten wird häufig vorgeworfen, eine Politik per Meinungsumfrage zu machen. Es ist natürlich nicht falsch, die Leute da abholen zu wollen, wo sie sich gerade befinden. Aber wenn gleichzeitig die Rechte eine Politik macht, die darauf ausgelegt ist, die öffentliche Meinung nach rechts zu verschieben, trifft man die Leute halt immer weiter rechts an.


Im Moment ist die Weltlage nicht gerade berauschend. Es fällt schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren. Aber gleichzeitig darf man dabei nicht vergessen, dass wir nicht machtlos sind, wenn es um die öffentliche Meinung geht. Denn wir sind auch alle Teil davon. Das gilt umso mehr für Politiker oder Journalistinnen oder andere Meinungsmacher:innen.


Eines der Merkmale von Populismus, sei es von rechts oder von links, ist die Elitenkritik oder die Thematisierung eines Widerspruchs zwischen Volk und Elite. Auch hier gilt: Diese Kritik ist nicht per se falsch, genauso wenig wie es der Populismus ist. Nur muss man auch ein bisschen ehrlich bleiben in der Politik, gerade auch gegenüber der Bevölkerung. Auch in der Demokratie ist Politik zu einem grossen Grad ein Elitenprojekt. Das Problem ist eher, dass der Elitenkonsens, dass Demokratie die beste Staatsform ist und dass dazu auch ein funktionierender Rechtsstaat und die Wahrung der Menschenrechte gehört, am bröckeln. Das geht leider weit über die Rechte hinaus und ist teilweise in der «Mitte» der Gesellschaft angekommen. Dabei ist gerade eine regelbasierte Weltordnung, ein Grundkonsens über Menschen- und Völkerrechte eine der grossen zivilisatorischen Errungenschaften, die jetzt teilweise recht arglos zur Disposition gestellt wird. Auch ein Verbrecher hat das Recht, nicht Folter oder grausamer Behandlung ausgesetzt zu werden. Das gilt auch für afghanische Asylsuchende. Die Zivilbevölkerung muss geschützt werden vor Angriffen, ungeachtet ihrer politischen oder religiösen Haltung. Weitere Beispiele gibt es zuhauf. Bei uns verschwinden noch keine Menschen, und es landen auch keine ohne Prozess in salvadorianischen Folterknästen (und auch nicht mit Prozess). Aber der Weg dorthin ist schneller als uns manchmal lieb ist. Und die ersten Schritte werden auch bei uns gegangen.