Kein Wahlkampf, nirgends

 

Ein beliebtes Gedankenspiel von Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfern ist die Vorstellung, man könnte doch einmal ganz darauf verzichten, überhaupt Wahlkampf zu machen. Einmal einen Wahlkampf zu machen ganz ohne Wahlkampf – ohne Flyer, Plakate, Inserate, Stand- und andere Aktionen. Dann würde man vielleicht merken, dass es gar keinen Unterschied macht. Dass der Zeitgeist entscheidet und nicht die Wahlkampagne. Das hätten sich beispielsweise die Grünen überlegen können. Sie mussten in diesen Wahlen massiv Federn lassen, verloren 6 Sitze im Kantonsrat und ihren Sitz im Regierungsrat. Insgesamt verloren sie 11 424 Wählerinnen und Wähler. Das Problem mit diesem Szenario – wie bei allen solchen Planspielen: Man weiss nicht, ob es sonst nicht noch schlimmer gekommen wäre.

 

Die kantonalen Wahlen in Zürich brachten einen massiven Gewinn für die FDP, ganz leichte Zugewinne für SP und SVP. Das bescherte der SP immerhin einen Sitzgewinn. Die AL zählt ebenfalls zu den Gewinnerinnen und erreicht neu mit zwei zusätzlichen Sitzen Fraktionsstärke. Im Regierungsrat konnte sich Top 5 durchsetzen. Die SP verteidigte mit Jacqueline Fehr den Sitz der zurückgetretenen Regine Aeppli. Trotz Gewinnen von SP und AL muss ein Rechtsrutsch konstatiert werden. Die Sitzgewinne von AL und SP kompensieren nur die Hälfte der von den Grünen verlorenen Sitze. Ebenfalls massiv verlor die GLP, die 5 Sitze abgeben musste. Auch die BDP hat einen Sitz weniger. Beide Parteien kann man – mindestens in der Theorie, nicht immer in der Praxis – als links der FDP zählen. Für die Bürgerlichen und deren Strippenzieher vom Forum Zürich war der Wahltag ein Tag der Freude. Das Bündnis hat – trotz Pudding-Anwürfen – einigermassen gehalten. Die Botschaft, Top 5 stünden in potenziell unsicheren Zeiten für Sicherheit, Stabilität und Wirtschaftskompetenz, scheint bei den Wählerinnen und Wählern funktioniert zu haben. Ob sich der Gang in die totale Abhängigkeit (auch finanzieller Art) von den Wirtschaftsverbänden und der SVP für die CVP auszahlen wird, ist noch offen.

 

Der grosse Triumph des Freisinns ist sicher auf die Schwäche der sogenannten neuen Mitte zurückzuführen. Einige Wählerinnen und Wähler haben sich von den Grünliberalen ab- und den Freisinnigen wieder zugewendet. Die FDP scheint zudem im Moment beide Flügel ihrer Wählerinnen und Wähler ansprechen zu können. Sie bedient die Rechtsbürgerlichen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, wo sie sich der SVP ziemlich angenähert hat. Und sie demonstriert ihre Unabhängigkeit von der SVP bei Kultur, Tagesschulen und bilateralen Beziehungen zu Europa. Es wäre zu hoffen, dass die FDP ihr durch den Wahlsieg gewonnenes Selbstvertrauen dazu nutzen würde, sich vom Gängelband und der Erniedrigung durch die SVP zu lösen. Vermutlich bleibt dies aber ein frommer Wunsch.

 

Grün ist nicht mehr in, grüne Themen auch nicht. Die Grünen konnten in der vergangenen Legislatur mit der Annahme der Kulturlandinitiative einen grossen Erfolg feiern, ebenso mit der Änderung des Planungs- und Baugesetzes, das neu Zonen für erneuerbare Energien zulässt. Trotzdem wurden sie in den Wahlen abgestraft. Die Nichtwiederwahl von Martin Graf hat mit der allgemeinen grünen Schwäche zu tun, aber auch mit dem Fall Carlos. Dabei konnte er es weder den Linken noch den Rechten recht machen. Vermutlich konnten sich wenige noch klar an den Fall erinnern, aber man erinnerte sich daran, dass etwas schief gelaufen ist und Martin Graf in der Geschichte nicht nur glücklich agierte.

Hätten die Grünen sich also besser das Geld und die Zeit gespart, weil es in dem Wahlkampf eh nichts zu gewinnen gab? Vielleicht, vielleicht auch nicht (die Inserate im P.S. waren auf jeden Fall gut investiertes Geld…). Sicher scheint mir, dass ihre Kampagne nicht sonderlich gelungen ist. Martin Graf konnte während des ganzen Wahlkampfs nicht richtig aufzeigen, dass er neben «Carlos» einen Leistungsausweis erbracht hat und dabei auch Erfolge verbuchen konnte. Beispielsweise bei Gemeindefusionen und der Kultur. Und vielleicht wäre es auch besser gewesen, den Fall Carlos offensiv zu thematisieren. Nur «authentisch und klar» im Biergarten zu sitzen, genügt in einer schwierigen Ausgangslage sicher nicht. Zum zweiten setzten die Grünen auf einen etwas seltsam anmutenden Spass-Wahlkampf, wo es um Energy-Getränke zu gehen schien statt um Inhalte. Dabei hätten die Grünen eigentlich eine ansprechende und richtige Botschaft gehabt: Besser statt mehr. Also mehr Qualität statt überbordendes Wachstum. Die Debatte um Wachstum bleibt aktuell und wird uns auch in Zukunft beschäftigen. Ökologie und Nachhaltigkeit – und dabei ist die soziale Dimension der Nachhaltigkeit entscheidend – sind wichtig, auch wenn sich der Zeitgeist gerade nicht so dafür interessiert. Allerdings ist der pure Fokus auf grüne Themen vermutlich im heutigen Klima nicht gewinnbringend.

 

Die SP hat in diesem Wahlkampf vor allem auf die Mobilisierung gesetzt. Dieser Teil des Wahlkampfs war hervorragend organisiert und hat viele Mitglieder im Wahlkampf aktiviert. Insgesamt hat die SP aber – im Gegensatz zu Luzern – in den Wahlen keine zusätzlichen Wählerinnen und Wähler gewonnen, sondern (auch wegen der tiefen Stimmbeteiligung) 2312 Wählerinnen und Wähler verloren. Auf dem Land und in Winterthur konnte sie einen Teil der Verluste der Grünen kompensieren, in der Stadt Zürich verlor die SP Stimmen – vor allem an die AL. Das gute Resultat der SP in Winterthur ist vermutlich mindestens ebenso auf die erfreulicherweise gewonnene Abstimmung über die Gemeindezuschüsse zurückzuführen wie auf den engagierten Wahlkampf der Winterthurer Genossinnen und Genossen. Das heisst nicht, dass der Mobilisierungswahlkampf falsch war. Es zeigt sich aber, dass er nicht genügt. Im Wahlkampf ist es der SP – ebensowenig wie den Grünen – gelungen, Themen zu setzen und eine überzeugende Alternative zu Top 5 zu präsentieren. Das gilt auch für das Vierer-Ticket, das offensichtlich nicht ganz gespielt hat. Mit dem Vorstosspaket zur Steuerpolitik wurde mindestens ein Akzent gesetzt, der allerdings schnell wieder verpuffte. Den Wählerinnen und Wählern wurde zwar versprochen, dass die SP anpacke. Was aber angepackt werden soll, blieb ein wenig unklar.

 

Der in den Gemeinderatswahlen begonnene Höhenflug der AL setzte sich in den Kantonsratswahlen fort. Insbesondere in der Stadt Zürich konnte die AL stark zulegen. Die innerhalb der AL nicht immer einfache Diskussion rund um Polizeifragen – das Dilemma zwischen Opposition und Regierungsverantwortung, zwischen kompromisslosem Einsatz für Grundrechte und den Sachzwängen des Amts des Polizeivorstands – haben der Partei (noch?) nicht geschadet. Die AL konnte sich als klare Alternative zu SP und Grünen positionieren und wurde dafür belohnt. Ob dieser Höhenflug längerfristig anhält, ist noch offen. Die AL ist im Moment die gleiche Projektionsfläche im linken Lager wie es GLP und BDP für die Mitte waren. Eine unverbrauchte und frische Kraft, die noch nichts falsch gemacht hat und der man zutraut, es richtiger zu machen. Wie aber GLP und BDP beweisen, kann sich diese Hoffnung bei Wählerinnen und Wählern auch schnell wieder verflüchtigen.

 

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