Kein Grund zur Panik

Nach den Wahlen in drei deutschen Bundesländern, bei denen die «Alternative für Deutschland» (AfD) letzten Sonntag zwischen 12 und 24 Prozent der Stimmen gewann, titelte der ‹Tages-Anzeiger› am Montag, «Anti-Merkel-Partei triumphiert in Deutschland». Die NZZ hingegen schrieb ‹nur› von einem «Denkzettel für die grosse Koalition» und hielt erst mal fest, die Mehrheit der WählerInnen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt scheine «die bisherigen Ministerpräsidenten, nicht aber deren Koalitionsregierungen» im Amt bestätigt zu haben. Und sie stellte klar, dass sich «die eigentlichen Wahlsieger», der Grüne Winfried Kretschmann in Stuttgart und die Sozialdemokratin Malu Dreyer in Mainz, im Wahlkampf nicht von Angela Merkels Flüchtlingspolitik distanziert hatten – «im Gegenteil».

NZZ-Kommentator Peter Rásonyi sieht dennoch bloss zwei Möglichkeiten, wie man auf das «Warnsignal nach Berlin» reagieren könne: Entweder müssten die etablierten Parteien erkennen, «dass der Grossteil der Wähler des Aufsteigers nicht einfach ein Haufen trüber Rassisten, Extremisten und Dummköpfe ist, die man am besten ignoriert». Vielmehr seien den Parteien «viele der eigenen, durchaus bürgerlichen und ehrenhaften Wähler abhandengekommen (…), weil diese nicht mehr geneigt sind, die Politik der Regierungskoalition nach dem Motto von Kanzlerin Merkel als alternativlos zu bezeichnen». Oder es treffe das «aller Erfahrung nach (…) wahrscheinlichere» ein, nämlich «ein empörter Aufschrei in Medien und Politik über die Bedrohung durch die ‹rechtspopulistische› AfD».

Womit wir bei dem wären, was wir hierzulande unter dem Stichwort «die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen» bestens kennen. Sollen also die etablierten Parteien damit beginnen, ihre Politik zu ändern und «selbst Alternativen und neue Antworten für bürgerliche Wähler» anbieten, «allen voran auf dem Gebiet der Zuwanderung und Integration», wie die NZZ schreibt?

Was davon zu halten ist, hat Andrea Sprecher in ihrem «Post Scriptum» im P.S. vom 13. November 2015 auf den Punkt gebracht: «Es ist Standard in jeder politischen Diskussion, Argumente mit der Phrase der ernst zu nehmenden Ängste zu wattieren. Es ist grundfalsch.» Die SVP habe ihre Karriere damit befeuert, dass sie «diffuse Ängste erstens ernst nahm und sie zweitens auch konkretisierte», schrieb Andrea Sprecher: «Sie diagnostizierte die EU und den Ausländer als Grundübel und liefert für diese Diagnose seit Jahren und Jahrzehnten die nötigen Zahlen und Bilder. Dabei ist es nebensächlich, dass die Fakten falsch sind und kein einziges der prophezeiten Schreckensszenarien je eingetreten ist.»

Natürlich mag man einwenden, dass die Situation in Deutschland eine andere ist. Das Wahlresultat vom Wochenende hat in Bundesländern, die es sich gewohnt sind, dass zwei bis drei Parteien für eine Regierung ausreichen, tatsächlich ein anderes Gewicht als von der Schweiz aus gesehen, wo es auch VertreterInnen von kleinen bis kleinsten Parteien in Exekutiven schaffen können.

Dennoch: Wer vor allem dartun wollte, dass er oder sie dagegen ist, dass Deutschland noch mehr Flüchtlinge aufnimmt, der konnte dieses Mal AfD wählen. Letztes Mal wählte er oder sie vielleicht noch SPD oder CDU. Das ist natürlich hart für die etablierten Parteien. Aber wenn sie sich nun darauf konzentrieren, ihre Politik bis zu den nächsten Wahlen jener der AfD anzugleichen, dann ist absehbar, was passiert: Sie verlieren erstens die WählerInnen, die den jetzigen Kurs von Angela Merkel unterstützen, und zweitens können sie bei den AfD-SympathisantInnen kaum punkten, denn die Leute wählen nun mal lieber das Original.

Und: Es ist nicht verboten, dagegen zu sein, dass Flüchtlinge nach Deutschland (oder auch in die Schweiz) kommen und hier bleiben dürfen. Das allein macht niemanden zum Rassisten. Wer allerdings keinen Grund sieht, von der ‹Willkommenskultur› und der – unterdessen ja auch schon verschärften – Politik von Kanzlerin Merkel abzurücken, der oder die hat genau dasselbe Recht, diese Meinung zu äussern. Diesen Menschen vorzuwerfen, sie nähmen «die Ängste der Bevölkerung» nicht ernst, ist ebenso daneben wie die pauschale Rassismuskeule.

Interessanter wäre sowieso die Frage, warum jemand zur einen oder zur andern Ansicht kommt. Nur ist die leider nicht so einfach zu beantworten… Wenn ein Teil der potenziellen AfD-WählerInnen mit den Flüchtlingen vor allem Kosten auf das Land zukommen sieht und instinktiv davon ausgeht, dass diese auch an ihnen hängen bleiben werden, liegen sie kaum falsch. Aber was scheidet die Menschen an diesem Punkt in jene, die finden, den Flüchtlingen zu helfen sei selbstverständlich, und in jene, die schreien, «zuerst will jetzt ich mal profitieren»? Das müsste die etablierten Parteien doch in erster Linie interessieren. Dies umso mehr, als es sich bei der AfD um eine neue Gruppierung handelt, von der noch niemand weiss, ob sie sich als Partei etablieren und im politischen Alltag mitarbeiten kann – und will.

Andere Sorgen haben unsere ParlamentarierInnen zu Bern; der Nationalrat etwa befasste sich mit der Unternehmenssteuerreform III: Hier niedergelassene Unternehmen zahlen auf Gewinnen, die sie im Ausland erwirtschaften, weniger Steuern als auf im Inland erzielte. Warum das nie einen Aufstand der dadurch benachteiligten einheimischen UnternehmerInnen absetzte, weiss ich leider auch nicht. Vielleicht war ihre Steuerlast doch nicht so unerträglich, wie uns die Bürgerlichen in Parlaments- und Sonntagsreden jeweils klar zu machen versuchen? Item: Heutzutage gilt es, die «internationale Akzeptanz des Schweizer Unternehmenssteuersystems wiederherzustellen», wie der bundesrätlichen «Botschaft zum Unternehmenssteuerreformgesetz III» zu entnehmen ist.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder zahlen die von hier aus im Ausland Gewinne erwirtschaftenden Firmen gleichviel wie die Schweizer Firmen bis anhin, oder die Schweizer Firmen zahlen auch nur noch so wenig wie die andern bisher. Das heisst, selbstverständlich gibt es nur die zweite Möglichkeit, denn sonst laufen uns diese Firmen davon… sagen die Bürgerlichen. Für tiefere Unternehmenssteuern ist ja sogar die SVP – obwohl es ihr eigentlich entgegenkommen müsste, wenn die ausländischen Firmen verreisten und die AusländerInnen, die für sie arbeiten, gleich mitnähmen. Dann könnten wir uns die endlosen Diskussionen darüber sparen, wie sich jene Menschen, die gemäss Personenfreizügigkeitsabkommen bei uns arbeiten dürfen, am besten vergraulen lassen. Wobei: Ihr Hauptthema will logischerweise keine Partei wegsparen.

Steuergelder zu sparen ist allerdings auch kein einfaches Unterfangen. Denn die Unternehmen wollen nicht nur tiefe Steuern, sondern auch eine möglichst gute Infrastruktur für ihre MitarbeiterInnen. Dumm nur, dass die nicht automatisch weniger kostet, nur weil die Unternehmen weniger Steuern zahlen… Wie dieses Dilemma gelöst wird, ist absehbar: Erst schaut jeder für seinen Profit, dann will es keiner gewesen sein, und am Schluss zahlen wir alle die Rechnung. So gesehen, könnten wir genausogut auch noch ein paar Flüchtlinge mehr aufnehmen.

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