«Jetzt sind wir dran!»

Nach dem phänomenalen «Winter Sleep» glückt Nuri Bilge Ceylan schon wieder ein poetisch beseelendes Filmepos. In kurzweiligen drei Stunden verwebt er in «The Wild Pear Tree» eine vordergründige Handlung mit einer Vielzahl hintergründiger Symbolik zu einem Tableau über die heutige Türkei.

 

Thierry Frochaux

 

Seit Jahren schon gräbt Recep (Tamer Levent) an einem Brunnen neben seiner Hütte, in die er sich von der Welt zurückgezogen hat. Für die Stadtbewohner macht er sich damit zum Gespött, denn noch nie wäre hier Wasser gefunden worden. Ob der alte Mann aus Trotz seine Energie schöpft oder ob ihn die Sisyphosarbeit als einziges Mittel davor bewahrt, endgültig verrückt zu werden, wird sich erst ganz zum Schluss dieser epischen Filmreise weisen. Dann, wenn sein Enkel Sinan (Dogu Demirkol), über eben diesem Schacht steht und nach einer Odyssee der versuchten Selbstverwirklichung eine Entscheidung treffen muss.

 

Mit einem Studienabschluss ohne Berufsperspektive kehrt der junge Mann aus Istanbul zurück in seine Heimatstadt Canakkale, die er «das besterhaltene Schlachtfeld der Welt» nennt. Weil ihm nur die Wahl bleibt zwischen Militärdienst und dem Lehrerberuf, der ihn auch in den Osten in die Nähe der Front bringen kann, entscheidet er sich mit einer gehörigen Portion jugendlichen Starrsinns dafür, sein Leben fortan als Literat führen zu wollen. Den Roman «The Wild Pear Tree» hat er schon im Kopf. Doch woher die Mittel für den Druck nehmen, wenn nicht stehlen. Sein Vater Idris (Murat Cemcir) füllt die Leere, die sein Leben in der Wiederholungsschlaufe als Lehrer in ihm auszubreiten half, nur sehr behelfsmässig mit dem Kick von Pferdewetten. Mit dem Resultat eines weit verzweigten Schuldenbergs und der Ächtung seiner Schwiegereltern, die ihrerseits nicht mit Allerweltsratschlägen einer frommen und patriotischen Lebensführung geizen. Also beginnt das Klinkenputzen: Dem Bürgermeister hat der Roman zu wenig touristisch verwertbaren Lokalbezug, der Industrielle lässt sich lange verleugnen und windet sich letztlich mit fadenscheinigen Argumenten aus der Affäre.

 

Jedes Alter leidet am selben
In Atempausen erkundigt sich Sinan bei seinen Jugendfreunden. Fred, der unterdessen bei der Polizei ist, schwärmt ihm am Telefon vor, wie er seine Aggressionen durch das Verprügeln von linken Demonstranten los wird. Die Jugendliebe Hatice (Hazar Ergüzlü) trägt neuerdings Kopftuch und ist Gewinnbringenden versprochen, träumt aber wie Sinan vom Weltentdecken (welches Land vergibt Nichtoberschicht-Türken schon Visa?) und der Selbstbestimmung. Aber weder ein Kuss im Verborgenen noch sein beherzter Kampfruf, «jetzt sind wir dran!», vermögen die lebenskluge Frau mit dermassen kraftvollen Illusionen nähren, dass sie darüber die Realität vergässe. Der jugendliche Starrsin Sinans hält in ihm seinen Traum noch immer hoch und, wer ihn noch nicht zurückgewiesen hat, ist die Intelligenzija.

 

Zielstrebig lauert er in einem Café dem Schriftsteller Suleyman (Serkan Keskin) auf. Eine lokale Institution und ein weit über die Stadtgrenzen hinaus angesehener Literat. Doch der ist des Ratschläge erteilens müde und darüber hinaus von den ihn immer neu und immer weiter einschränkenden offiziellen Vorgaben, welchen Zweck Literatur zu erfüllen habe, regelrecht ermattet. Also begegnet er Sinan von oben herab, was im Jungspund einen verbalen Wehrreflex auslöst. Daraus entwickelt sich ein dia­logischer Hochseilakt, der zu einer der zentralen Fragestellungen im Film mutiert: Wo verläuft in einer Gesellschaft die Frontlinie zwischen verbaler Auseinandersetzung und roher Gewalt? Dem gegenüber ist der spätere Disput mit jungen Imamen nachgerade gewöhnliches Foppen und Rempeln, was alle Involvierten aus ihren Schulzeiten kennen.

 

Militärdienst und Lehrerprüfung folgen, sind aber als Puzzlesteine einzig dazu da, ein Gesamtbild des Verlorenseins in der Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu komplettieren. Der Lebenstraum, die Fähigkeit und die Energie zur Durchsetzung wären da, die Möglichkeiten indes sind nicht einmal bescheiden vorhanden, sondern erweisen sich als regelrechte Traumbilder, deren Erreichen von realen Barrikaden der raffinierten Verhinderung verunmöglicht werden. Also resultiert zum Schluss nichts geringeres als die finale Gretchenfrage über den Sinn des Daseins. Das alles in betörenden Bildern zu ergreifender Musik und einer Quintessenz, die entgegen deren analytischer Einordnung als reales, mehrdimensionales Bild für ein Leben eines jungen Mannes nachgerade mit einem Rausch vergleichbar grundsätzlich hoffnungsfroh stimmt. Grossartig!

 

«The Wild Pear Tree» spielt im Kino Arthouse Movie

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