- Kultur
Jahrestag
Natürlich ist es zuallererst belustigend, auch weil das Rachegefühl einen hohen Identifikationswert aufweist, wenn C. (Martin Butzke) die Kontaktnummern von Spammails in der Absicht zurückruft, die Mitarbeiter:innen aus ihrem Tritt zu bringen. Mit einer Telefonie-VPN kann er seine Herkunft verschleiern, also auch weiternerven, wenn seine Nummer geblockt wurde. Er kennt die dem Personal eingetrichterten Gesprächsprotokolle aus dem Effeff. Ob ein Softwarehersteller Hilfe bei der Entfernung eines Virus anbietet oder die fehlerhaft benannte Steuerbehörde eine Rückerstattung verspricht, es ist immer Abzocke. Die Personen am Telefon sprechen gebrochenes bis unverständliches Deutsch, ihren Text haspeln sie in Stakkato runter und für Gespräche ausserhalb des Scripts fehlt ihnen sowohl die Befähigung als auch die Berechtigung. Genau auf diese Schwachstelle in einem mechanisierten Arbeitsablauf im Akkord zielen die verbalen Interventionen von C. Zuerst freundlich, anscheinend am jeweiligen Gegenüber interessiert, zunehmend jedoch begleitet von aggressiven Ausrastern und unerhört überheblichen Erniedrigungen. Für C. nähert sich ein Jahrestag. Jener des Verlustes seines Lieblingsmenschen. Offenbar ist ihm mit dem plötzlichen Hinschied seiner Partnerin sowohl der Zugang zu einem sozialen Austausch verschlossen als ihm auch jede sogenannt sinnstiftende Freizeitbeschäftigung obsolet erscheint. Die anfänglich lustbetont wirkende Retourkutsche gegenüber ihrerseits kapitalistisch ausgebeuteten Handlangern für Bauernnepperei entwickelt sich zusehends zu einem ziellosen Rundumschlag gegen die Ungerechtigkeit der Welt, ja des Daseins als solchem. Die dramatische Qualität in «Flüstern in stehenden Zügen» von Clemens J. Setz nährt sich nicht aus der Wiederholungstat des Wählens und beabsichtigten Irreführens sondern in der sich verändernden Anspannung von C. gegenüber dem sich nähernden Jahrestag des tödlichen Unfalls seiner Frau, worüber sich der anscheinend spielerische Beginn immer stärker in Richtung einer puren Verzweiflungstat zuspitzt. Regisseurin Johanna Zielinski hat eigentlich nur das schauspielerische Können von Martin Butzke als Mittel zum Ausdruck. Dabei ist es weniger die offensichtliche Veränderung von einem gelangweilten Flausen zwischen den Zehenräumen klauben hin zur grobschlächtigen Tätlichkeit gegen ein Styroporwändchen, als der Gesichtsausdruck, der Tonfall, die Körperhaltung, die den kontinuierlichen Weg in die Selbstaufgabe jenseits aller Sprache erkenntlich und fühlbar macht.
«Flüstern in stehenden Zügen», bis 6.10., Kellertheater, Winterthur.