Martin Kilias: «Die Devise scheint zu sein: Das ISOS ist super, unsere Ortsbilder sehr wichtig, ausser dort, wo ich gerade bauen will.» (Bild: Sergio Scagliola)

ISOS als Problem: ein lokales Thema

Kurz vor den Sommerferien kritisierte die Stadt Zürich den Einfluss des Inventars der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) auf ihre Bautätigkeit und warnte vor einer Blockade. Beim Schweizer Heimatschutz hat man wenig Verständnis für das Anliegen der Stadt und für die Forderung, die ISOS-Direktanwendung einzuschränken. Heisst: das ISOS nicht mehr zwingend zu berücksichtigen, wenn ein Bauprojekt Bundesaufgaben wie etwa den Gewässerschutz tangiert. Im Gespräch mit Sergio Scagliola erklärt der Präsident des Schweizer Heimatschutzes, Martin Killias, warum ihm die Kritik der Stadt Zürich sauer aufstösst.

Herr Killias, als Präsident des Schweizer Heimatschutzes ist, was die Stadt Zürich beklagt, vielleicht ein Vorwurf an Ihre Adresse: Sie sieht ihre Bautätigkeit bedroht – aufgrund des ISOS. 

Martin Killias: Wenn ich solche Dinge höre, frage ich mich, in welcher Stadt dieser Stadtrat eigentlich wirkt. Seit das ISOS 2016 für die Stadt Zürich anwendbar wurde, haben die Baubewilligungen in der Stadt Zürich um gut einen Drittel zugenommen. Das ist einfach inkompatibel mit dem, was von Baublockaden erzählt wird. Dass das ISOS in Zürich zum Problem wird, ist ein lokales Thema. Bereits als das ISOS als Entwurf veröffentlicht wurde, gab es Schwierigkeiten mit dem Zürcher Stadtrat. Und in der neuen Bau- und Zonenordnung (BZO), die um 2017 ausgearbeitet wurde, wurde das ISOS einfach ignoriert. Infolgedessen haben wir damals ein Verfahren eingeleitet und uns schlussendlich in einem Vergleich geeinigt, der vorsah, dass die Stadt ihre Inventarliste nach dem ISOS ergänzt – ein vernünftiger Kompromiss. Weil ein Privater die Sache aber ans Bundesgericht weiterzog und gewann, musste die Stadt dennoch nachbessern. 

Mit welcher Folge?

Das Gericht hat gesagt, die Stadt könne nicht eine BZO machen, in der das ISOS nicht vorkommt. Ich finde aber das politische Klima interessant, innerhalb dessen diese Geschichte passiert ist: Dass die rot-grüne Stadtregierung von Anfang an auf eine derartige Verweigerungshaltung umgeschaltet hat, ist einfach nicht konstruktiv und für mich auch schweizweit einmalig – aus anderen Landesteilen höre ich keine vergleichbaren Dinge. 

Wie gehen es denn andere Städte an?

Es fühlt sich unaufwendig und unaufgeregt an. Man lebt mit dem ISOS. Man macht es einfach richtig. Und da gehört auch dazu, dass man von Seiten der Stadt respektive der Verwaltung die Bauherrschaften selbstverständlich auf die massgebenden Vorschriften hinweist. Derweil wird hier gesagt, dass teils zehn Jahre Planungsarbeit zunichte gemacht werden, weil plötzlich das ISOS im Raum steht und alles wie ein Kartenhaus zusammenfällt. Was haben die Leute denn bitte geplant? Sich innerhalb der Planungsvorbereitung Gedanken zu machen über den Einsatzperimeter, in dem man bauen will, gehört doch einfach dazu.  

Bei einem Bauprojekt in der Laubegg, wo das ISOS plötzlich eine Rolle spielte, ging es aber z.B. gar nicht um den eigentlichen Bauperimeter, sondern um das Nachbarsgebiet.

In der Laubegg war es gar nicht der Heimatschutz, der auf die Barrikaden ging. Das hatte aus unserer Sicht weniger hohe Priorität – es waren die Nachbarn, die ihren Prozess gewonnen haben. Ähnlich in einer Siedlung in Schwamendingen – ein Projekt im Gebiet mit dem höchsten Schutzgrad: Eigentlich hätten wir gute Karten, das Projekt zu bekämpfen, aber bereits zur Zeit der BZO-Diskussion um 2017 hat der Heimatschutz erklärt, dass er sich dem Abbruch der Siedlung nicht widersetzen werde. Deshalb sehe ich nicht, weshalb die Stadt daraus ein Problem macht.

Anscheinend wird das ISOS oft zum Problem, weil es erst in fortgeschrittener Planung thematisiert wird. Wer ist hierbei in die Verantwortung zu nehmen, dass das nicht jeweils früher geschieht – wenn es doch in anderen Städten nicht zum Problem wird – die Stadt oder jene, die Bauprojekte einreichen?

Letztlich beide. Aber vor allem die Stadt. Wenn sich die Gemeinde frühzeitig einschaltet, ist es in der Regel so, dass darauf hingewiesen wird, wenn man z.B. in einem Perimeter mit dem höchsten Schutz baut. Denn das beeinflusst die Planung. Deshalb sehe ich in diesem Posaunenstoss einer nota bene rot-grünen Stadtregierung einen sehr unfairen Versuch, die Biodiversitätsinitiative anzugreifen. Nicht umsonst wird das gesamte Narrativ um diese von der Aussage getragen, dass ein Ja zur Initative zur Baublockade führt. Dass der Stadtrat dies mitträgt, ist fragwürdig. 

Wo macht sich dieses Narrativ bemerkbar?

Zum Beispiel in den Grafiken, die auch vom P.S. (siehe P.S. vom 28.06.) reproduziert wurden, wo 75 Prozent der Stadt rot eingefärbt sind. Das ist nicht speziell. Das ISOS bezieht sich grundsätzlich immer auf 100 Prozent der Siedlungsfläche. In Genf, wo es keine Wälder gibt, ist das ISOS praktisch auf 99 Prozent der Stadtfläche anwendbar. Aber was heisst anwendbar? Es gibt eine gewaltige Differenzierung innerhalb des ISOS – die Perimeter A, B und C. In Zürich ist zum Beispiel die Altstadt im A-Perimeter, womit der Substanzerhalt gesichert ist. Heisst: Man kann grundsätzlich nicht abbrechen. In Zürich sind elf Prozent der Fläche im A-Perimeter. Seit der Einführung des ISOS sind zudem sehr viele Häuser im A-Perimeter abgebrochen worden – das ist nämlich nicht ausgeschlossen, sondern nur schwieriger zu begründen. Der Grossteil Zürichs ist aber in der B- oder C-Zone, wo nur die Struktur respektive der Charakter des Gebiets erhalten werden muss. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals im B- oder C-Perimeter einen Abbruch verhindern konnten.

Eine Sache wurde medial in Reaktion auf die ISOS-Thematik wenig thematisiert. An der Pressekonferenz der Stadt Zürich ging es vor allem um Neubauprojekte und nie konkret um Umbauten. Kann man sagen, dass das ISOS zum Problem wird, weil man neu bauen und nicht umbauen will?

Genau das ist der Punkt. Umbauten sind kein Problem. Sogar im A-Gebiet sind Umbauten in der Regel relativ problemlos möglich. Tatsächlich ein Problem ist aber: Abbruch ist die grösste Umweltsünde. Es gibt ein Team an der ETH, das sich mit der Frage beschäftigt, wie lange ein Haus leben muss, um den anfänglichen Input zu kompensieren. Wenn Beton gegen Beton ausgespielt wird, sind es mindestens 50 Jahre. Bis dahin ist längst die nächste Erneuerungswelle gekommen. 

«Sogar im A-Gebiet sind Umbauten in der Regel relativ problemlos möglich. Tatsächlich ein Problem ist aber: Abbruch ist die grösste Umweltsünde.»

…dennoch ist der scharfe Tonfall seitens Stadt an die Adresse des ISOS auffällig.

 Ich habe in Reaktion auf die Medienkonferenz der Stadt sogleich eine Gegenkonferenz organisiert. Ein Journalist des ‹Tages-Anzeigers› wollte es genau wissen und konsultierte dazu einen Anwalt einer bekannten Zürcher Baurechtskanzlei, fragte ihn, was er von unserer Gegenkritik hielt. Dieser meinte, es sei nachweislich falsch, dass B- und C-Gebiete irrelevant seien. Dann habe ich ihn angerufen und rein aus Interesse gefragt, ob er es jemals erlebt habe, dass ein Bauprojekt in einem B- oder C-Gebiet verhindert wurde. Die Antwort: Aktuelle Beispiele gäbe es nicht. Aber es könnte welche geben. Das heisst für mich, dass diese Idee einfach ein Fantasieprodukt ist. 

Ist das die sich verschärfende Rechtssprechung, vor der man sich fürchtet?

Es scheint so, ja. Aber ich verfolge dieses Rechtsgebiet seit zehn Jahren und würde überhaupt nicht von Verschärfung sprechen. Was sich verändert hat, ist der Hintergrund. Früher wurde auf grünen Wiesen gebaut. Ortsbildschutz und Einsprachen interessierten niemanden. Und heute sagen alle: Es sei eindrücklich, wie stark das ISOS an Bedeutung zugenommen hat. Aber das hat nichts mit der Rechtssprechung zu tun. Sondern damit, dass man nicht mehr auf der grünen Wiese baut, sondern in den Städten und Dörfern. Und auch an sensiblen Orten, die im A-Gebiet sind. Es ist nur logisch, dass das zu Komplexität führt. Dass das ISOS daran Schuld trägt, ist ein Trugschluss – das ISOS ist eher nötiger denn je.

Inwiefern?

Die sogenannten ISOS-Problematiken haben sich nur vermehrt, weil immer mehr verdichtet wird. Natürlich wird nicht nur in ‹schwierigen› Gebieten verdichtet, diese Problematik gibt es überall. Was mich aber traurig macht, ist, dass die soziale Frage, die Verdrängung der einkommensschwachen Menschen, vollständig ignoriert wird. Genossenschaftssiedlungen werden abgebrochen, um einen Block mit einem dutzend Wohnungen mehr, aber doppelt so teuren Mieten zu bauen. Ich will nicht moralisieren, aber ich kann mich der sozialen Solidarität nicht entziehen. Verdichtung hat eine tragische soziale Komponente.

«Verdichtung hat eine tragische soziale Komponente.»

Und statt den Fokus auf die soziale Komponente zu schärfen, was wird getan? 

Ich finde es generell bedenklich, wie in letzter Zeit über die Themen ISOS und Baupolitik berichtet wird. Beispielsweise in der NZZ: Angefangen hat es mit einem Artikel darüber, dass 90 Prozent der Einsprachen gegen Bauprojekte missbräuchlich seien. Die Basis für dieses Narrativ ist eine Arbeit von Studierenden einer Fachhochschule. Ich habe mir diese angeschaut – eine anständige Studienarbeit, aber ich würde meinen, die NZZ sollte eigentlich ein Reputationsproblem bekommen, wenn sie dauernd mit solch bescheidenen Studien operiert. Seriöse, grössere Untersuchungen des Themas gibt es gar nicht. Was man aber sehen kann anhand der dort pu­blizierten Rohdaten, ist, dass im Prinzip etwa 40 Prozent der Rechtsmittel aus Sicht der Einsprachen erfolgreich sind. Das muss man sich mal vorstellen: Im Strafrecht werden weniger als zehn Prozent der Urteile korrigiert. Wären es fast 50 Prozent, würde es massive Proteste für bessere Verfahren und Untersuchungsmethoden geben. Beim Baurecht geschieht das nicht – und in der Politik gibt es stattdessen Vorstösse, wie das private Beschwerderecht eingeschränkt werden könnte. 

Und ein politisch realistischerer Ansatz wäre?

Die Biodiversitätsinitiative. Deren Annahme könnte dazu führen, dass Natur- und Heimatschutz gemeinsame Aufgaben von Bund und Kanton sind. Damit wäre eine Basis gegeben, um die strikte Unterscheidung von kantonalen und Bundesaufgaben zu überwinden. Natürlich müsste man die ganze Aufgabenteilung neu überdenken, aber dem würde ich mich nicht verschliessen.

Für die Stadt wird das ISOS durch die sogenannte Direktanwendung zum Problem, wenn eine Bundesaufgabe tangiert wird.

Grundsätzlich sind Natur- und Heimatschutz kantonale Aufgaben. Aber der Bund muss bei der Erfüllung seiner Aufgaben auch eigene Inventare berücksichtigen – nicht nur indirekt. Heisst: Wenn eine Nationalstrasse, eine Eisenbahn oder ein Bahnhof gebaut wird, muss der Bund das ISOS berücksichtigen. Das Problem ist, dass immer mehr Bundesaufgaben nicht mehr vom Bund, sondern durch Kantone und Gemeinden erfüllt werden. Zum Beispiel beim Gewässerschutz. Seitens Stadt höre ich, dass das zu absurden Resultaten führe. Es gibt diese Abgrenzungsschwierigkeiten. Das Bundesgericht sagt aber, dass wenn der Kanton eine Bundesaufgabe erfüllt, das ISOS und auch das  Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung gilt. Und wenn zusätzlich zur Baubewilligung eine wasserrechtliche Bewilligung nötig ist, ist eine Bundesaufgabe tangiert. Ich gebe zu, dass das im Einzelfall zu diskutablen Ergebnissen führen kann.

Dieses Zuständigkeitsproblem zeigt sich auch bei der Stadt in Bezug auf den Rückstau bei den Bewilligungsgesuchen, wo die Behörden ausgelastet seien.

Letztlich führen alle diese Grundsätze zu rechtlichen Verfahren. Diese könnte man vereinfachen. Im Prinzip bräuchte es im Kanton Zürich einen Regierungsratsbeschluss, dass anstelle der kantonalen Fachstellen in den Städten Zürich und Winterthur die städtischen Amtsstellen zuständig wären – sie haben schliesslich eine ausgebaute Denkmalpflege. 

Aber so oder so landet die Angelegenheit beim Kanton, wenn es Einsprachen gibt…

Ja, aber das müsste nicht so sein. Andere Kantone regeln das anders. Zum Beispiel hat in Bern die städtische Denkmalpflege diese Zuständigkeit und der Kanton kommt nicht ins Spiel. Dass die Stadträte Leutenegger und Odermatt nun die Hände verwerfen und sagen, es kommt zur Totalblockade, weil das kantonale Amt für Raumentwicklung nicht aufgestellt ist, so viele Gesuche zu bearbeiten, ist nachvollziehbar. Aber das Problem wäre aus der Welt geschafft, wäre die innerkantonale Zuständigkeit wie in Bern geregelt. Die Stadt will die ISOS-Direktanwendung aber einfach durchbrechen. Die Devise scheint zu sein: Das ISOS ist super, unsere Ortsbilder sehr wichtig, ausser dort, wo ich gerade bauen will.