Irrtum

Ein längerer Aufenthalt und Sprachkenntnisse machen niemanden zu Ortsansässigen.

 

Die Finnin Laura (Seidi Haarla) lebt offenbar schon länger bei ihrer russischen Partnerin Irina (Dinara Drukarova) in Moskau. Ohne eigenen Freundeskreis, mit keiner eigentlichen beruflichen Aufgabe und eben doch nur beschränkten Sprachkenntnissen kommt sie sich im lebhaften Trubel von Irinas Sozialleben zusehends fremder vor. Ihre Selbstwahrnehmung als autarke Frau, die den Status einer Touristin hinter sich gelassen hat, vereinfacht den weiteren Verlauf von Juho Kousmanens Film «Compartment No 6» überhaupt nicht. Beleidigt nach einem Paarstreit, unternimmt sie im Winter die beschwerliche Reise nach Murmansk, um sich als Archäologiestudentin die dortigen Inschriften anzusehen. Vom spröden russischen Charme alias herzliche Ruppigkeit hat sie offenkundig überhaupt keine Kenntnis. Sie befürchtet gegenüber allen ihr begegnenden Fremden, sie würden sie ausrauben, übervorteilen, und im Fall des im Schlafwagen mitreisenden jungen Mannes Ljoha (Yuriy Borisov) sogar noch Ärgeres. Für die Zwänge der ihr begegnenden Personen hegt sie keinerlei Verständnis, sondern reagiert auf jeden Steilpass zur Improvisation mit persönlichem Beleidigtsein, als ob sich die gesamte Kugel nur um ihren eigenen Bauchnabel drehte. «Compartment No 6» behandelt den Irrtum, sich als Gast ein Recht auf Misstrauen und Fremdenscheu herausnehmen und zeitgleich eine ebenbürtige, dazugehörende Behandlung einfordern zu dürfen. Entgegen einer historisch nachhallenden Gefühlslage, dass ein Individuum für sich nichts gilt, stellt sie sich jederzeit in den Mittelpunkt. Für die Notwendigkeit von informellen Umwegen, was faktisch gewährte Gefallen meint, hat sie wenig Gehör, also auch kein Verständnis dafür, dass diese erbeten werden können, nicht aber verlangt. Ihre Elefant-im-Porzellanladen-Mentalität erkennt noch nicht einmal die tiefere Motivation in Ljoha, ihr all seine Mischelfähigkeit zu Füssen zu legen. froh.

 

«Compartment No 6» spielt in den Kinos Houdini, Piccadilly.

 

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