Intransparent und inkompatibel mit den Grundrechten

Die Pläne der SBB, ihr Überwachungssystem grundlegend auszubauen und für kommerzielle Zwecke zu nutzen, kommen bei Politiker:innen und NGOs gar nicht gut an – trotz beschwichtigender Worte aus der Chefetage. 

Ab September 2023 plant die SBB, die Überwachung der Reisenden an über 50 Schweizer Bahnhöfen umfassend auszubauen. «KundenFrequenzMessSystem 2.0» heisst das Projekt, mit dem die Bundesbahnen künftig auswerten wollen, wer sich wann wo im Bahnhof bewegt, welche Geschäfte besucht werden und wieviel Geld man darin ausgibt. Alter, Geschlecht, Körpergrösse sowie allfällige körperliche Beeinträchtigungen, beispielsweise ob jemand auf einen Rollstuhl angewiesen ist – das alles soll von Sensoren und moderner Kameratechnologie erfasst werden, wie der ‹K-Tipp› am 12. Februar öffentlich machte. Eines der Ziele, laut ‹K-Tipp›: die Verknüpfung der Personendaten mit Kassendaten von Kiosks oder Bratwurstständen. 

Beabsichtigt die SBB also, unter dem Deckmantel der Sicherheit persönliche Daten der Reisenden zu kommerzialisieren? Zu diesem Schluss kamen viele Stimmen aus Medien und Politik, und entsprechend heftig fielen die Reaktionen auf die Nachricht aus: Die Junge GLP gab bekannt, rechtliche Schritte einleiten zu wollen, Grüne-Nationalrätin Marionna Schlatter, SVP-Nationalrat Rino Büchel und Mitte-Fraktionschef Philipp Bregy verlangten vom Bundesrat eine Stellungnahme, und bei ‹Blick› und ‹Watson› war von «Spionageangriffen auf Reisende» und dem «totalen Überwachungsbahnhof» zu lesen. 

«Fehlinterpretationen»

Erst eine Woche nach der Veröffentlichung des ‹K-Tipp›-Artikels befleissigt sich die SBB, «Fehlinterpretationen» von Medien und Politiker:innen richtigzustellen: Bewirtschaftungschef Alexis Leuthold versichert im Interview mit CH Media, man habe kein Interesse an Personendaten, geschweige denn an biometrischen Daten. Stattdessen sollen Personen, die den Bahnhof betreten, nach Alter, Geschlecht und Körpergrösse und allfälliger körperlicher Beeinträchtigung «vermessen» werden und eine anonymisierte Nummer zugewiesen bekommen. Wird das Gelände verlassen, wird die Nummer wieder gelöscht. Solange man im Bahnhof ist, registrieren Kameras und Sensoren, wo sich die Person – beziehungsweise die Nummer – aufhält, in welchem Kiosk sie etwas kauft und auf welchem Gleis sie in den nächsten Zug steigt. Wie genau diese Datenerfassungen zustande kommen, konnte Leuthold gegenüber CH Media aber noch nicht sagen: «Das wissen wir erst, wenn interessierte Firmen ein Angebot eingereicht haben.» Denkbar seien aber «Systeme, die mithilfe von Sensoren Bewegungsmuster und Körpergrössen erkennen und über eine künstliche Intelligenz rein mit statistischen Methoden das Geschlecht und das Alter schätzen». Was das genau heisst, bleibt zumindest dem Laien vorerst schleierhaft. Klar ist aber: Es handelt sich offenbar nicht um eine eigentliche Gesichtserkennung, sondern ‹nur› eine temporäre Erfassung demografischer Daten. 

Trotz Berichtigungen und Beschwichtigungen seitens Leuthold zeigt sich auch Algorithmwatch Schweiz besorgt. In einem offenen Brief verlangt die NGO von der SBB besonders eines: Klarheit. Die Bundesbahnen sollen die Bevölkerung transparent darüber informieren, was geplant ist – inklusive Offenlegung einer allfälligen Datenschutz-Folgenabschätzung. Ausserdem fordert Algorithmwatch, dass keine Infrastruktur zur biometrischen Identifikation, Verfolgung oder Kategorisierung in Bahnhöfen installiert wird. «Unsere Haltung bleibt auch nach der Stellungnahme der SBB gleich», sagt die Policy & Advocacy Managerin der NGO, Estelle Pannatier. «Wir möchten genau wissen, welche Daten konkret mit welchen Methoden erhoben werden, was gemessen wird, welche Qualität die Daten haben und wie sie verwendet werden.» Mit den schwammigen Erklärungen, die die SBB bis jetzt geliefert habe, könne man nicht viel anfangen.

Auch, dass die Umsetzung gemäss Eidgenössischem Datenschutzbeauftragten (Edöb) datenschutztechnisch unbedenklich ist, beruhigt die Algorithmus-Expert:innen wenig: «Uns geht es nicht nur um Datenschutz und Privatsphäre, sondern auch darum, dass das Sammeln von Daten wie Alter, Geschlecht oder Körpergrösse an Bahnhöfen eine Verletzung unserer Grundrechte darstellt», erklärt Tobias Urech, der bei Algorithmwatch als Campaigner arbeitet. «Wenn eine Infrastruktur, die theoretisch in der Lage ist, Personen zu identifizieren, einmal installiert ist, besteht ein extrem hohes Missbrauchsrisiko – auch wenn die SBB ursprünglich nur eine vergleichsweise harmlose, anonymisierte, kommerzielle Nutzung im Sinn hatte.»

Noch steht eine Antwort der SBB auf den offenen Brief von Algorithmwatch aus. Es bleibt zu hoffen, dass sie – falls sie kommt – keinen Spielraum für «Fehlinterpretationen» bietet.

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