- Tempo 30
«In der Stadt Zürich ist der Verkehr überall im Quartier»
Am 30. April war Tag des Lärms. Aus diesem Anlass verschickte die Lärmliga Schweiz eine Medienmitteilung mit dem Titel «Lärm macht krank – Handeln ist gefragt!» Laut der Lärmliga verursacht Verkehrslärm jedes Jahr rund 2500 Diabeteserkrankungen und 500 vorzeitige Todesfälle infolge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In der Schweiz ist über eine Million Menschen übermässigem Verkehrslärm ausgesetzt. Der Körper reagiert darauf, indem er bei störenden Geräuschen Stresshormone ausschüttet: Er ist permanent in Alarmbereitschaft. «Bluthochdruck, Herzinfarkt oder Schlafstörungen, aber auch Konzentrationsschwäche und psychische Erkrankungen wie Depression sind die gesundheitlichen Folgen», schreibt die Lärmliga weiter. Und vor allem: «Eine Gewöhnung des Körpers an Lärm gibt es nicht.» Insgesamt gingen der Schweizer Bevölkerung jedes Jahr rund 70 000 gesunde Lebensjahre wegen Lärm verloren. Auch zu den Kosten äussert sich die Lärmliga noch: «Die jährlichen Lärmkosten für Strassen-, Bahn- und Fluglärm belaufen sich auf rund 2,6 Milliarden Franken. Davon entfallen 1,4 Milliarden Franken auf Gesundheitskosten, während weitere 1,2 Milliarden Franken durch Wertverluste von Immobilien entstehen.» Lärm schadet somit nicht ‹nur› der Lebensqualität, sondern auch dem Portemonnaie.
«Übergeordnetes Recht» einmal anders
Der Bund verpflichtet die Kantone und Gemeinden dazu, ihre Einwohner:innen vor übermässigem Lärm zu schützen. Dabei soll der Lärm in erster Linie mit Massnahmen «an der Quelle» verringert werden. Darunter fallen beispielsweise Tempo 30 oder lärmarme Beläge. Diese Verpflichtung gibt es schon seit Jahrzehnten. Auf der Webseite des Bundesamts für Umwelt (Bafu) findet sich eine Medienmitteilung zum «nationalen Massnahmenplan zur Verringerung der Lärmbelastung», datiert vom 28. Juni 2017. In einem gleichzeitig veröffentlichten Dossier wird auf das Umweltschutzgesetz von 1985 verwiesen und die bisher getroffenen Massnahmen. Trotzdem würden die Lärmbelastungsgrenzwerte nach wie vor häufig überschritten: «Dabei verlangt die Lärmschutzverordnung seit 1987 für alle Lärmarten Massnahmen zur Vermeidung an der Quelle.» Lärmschutz ist offensichtlich eine Daueraufgabe, auch das ist auf der Webseite des Bafu nachzulenen: «Die Fristen zur Sanierung verschiedener lärmiger Anlagen wie Schiessstände oder Eisenbahnen sind bereits abgelaufen. Auch für Strassen sind sie gemäss Lärmschutzverordnung Ende März 2018 ausgelaufen. Längst nicht überall in den Kantonen und Gemeinden wurden die Ziele erreicht; oft werden die Grenzwerte überschritten, und die Bevölkerung ist weiterhin gesundheitsgefährdendem Lärm ausgesetzt.»
Allein in der Stadt Zürich wohnen aktuell 125 000 Menschen in Häusern, in denen die Lärmgrenzwerte für Strassenlärm überschritten werden, wie auf der Webseite der Stadt Zürich unter «Strassenlärm» nachzulesen ist (bis vor kurzem waren es noch 140 000 Menschen). Wenn also die Bürgerlichen mit Verweis auf übergeordnetes Recht Tempo 50 innerorts verteidigen, entbehrt das nicht einer gewissen Ironie. Es verunmöglicht der Stadt Zürich nämlich, die Lärmschutzvorgaben des Bundes endlich umzusetzen. Oder anders gesagt: Die Stadt Zürich soll auf Wunsch der bürgerlichen Politik die Vorgaben der Lärmschutzverordnung des Bundes und damit übergeordnetes Recht verletzen.
Sollen die Städte Zürich und Winterthur weiterhin auch für die überkommunalen Strassen auf ihrem Gebiet zuständig sein, und sollen sie auf solchen Strassen bei Bedarf Tempo 30 signalisieren dürfen? Diese Frage steht mit der kürzlich im Kantonsrat behandelten Mobilitäts- und der öV-Initiative (P.S. berichtete) beileibe nicht zum ersten Mal zur Debatte. In der jüngeren Vergangenheit war das etwa der Fall, als der Zürcher Gemeinderat an seiner Sitzung vom 10. April 2024 über die kommunale Volksinitiative «Kein Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen» beriet (siehe P.S. vom 12. April 2024).
Hauptverkehrsachse oder -strasse?
Worüber damals ausgiebig gestritten wurde, lässt sich im elfseitigen substanziellen Protokoll jener Sitzung nachlesen (auf gemeinderat-zuerich.ch/, Geschäftsnummer 2022/585 eingeben). Die Initiative verlangte die Ergänzung der Gemeindeordnung um folgende neue Bestimmung: «Auf Hauptverkehrsachsen gilt generell Tempo 50.» Kommissionssprecher Reis Luzhnica (SP) führte aus, da die Initiative den motorisierten Individualverkehr MIV einseitig zu Lasten der Verkehrssicherheit und des Umweltschutzes begünstige und der Stadtrat die Schwächung dieser beiden Punkte nicht für angebracht halte, lehne der Stadtrat die Volksinitiative ab und verzichte auf einen Gegenvorschlag. Mit den in der Initiative erwähnten «Hauptverkehrsachsen» seien «wahrscheinlich Hauptverkehrsstrassen» gemeint, führte er weiter aus. In der Vorlage des Stadtrats tönt das so: «Vorliegend ist der vom Initiativkomitee gewählte Begriff der ‹Hauptverkehrsachsen› nicht ganz eindeutig. Während das Strassenverkehrsrecht bezüglich der verschiedenen Arten von Strassen lediglich Haupt- und Nebenstrassen unterscheidet, unterteilt sie die kantonale und regionale Richtplanung anhand ihrer Funktion in Hochleistungsstrassen, Hauptverkehrsstrassen (kantonaler Richtplan) und Verbindungsstrassen (regionaler Richtplan). Es dürfte aber davon auszugehen sein, dass hier (zumindest) die Hauptverkehrsstrassen gemäss kantonalem Richtplan gemeint sein sollen.» Weniger nobel ausgedrückt könnte man sagen, das Initiativkomitee hat vor lauter Liebe zum Auto keinen Blick darauf geworfen, wie die Strassen korrekt heissen, auf denen ihr Objekt der Begierde möglichst allein, schnell und ungestört blochen können soll (das stammt aber nicht aus der Debatte, sondern ist von mir/nic.).
Nun für die SP fügte Reiz Luzhnica an, der Kampf der Rechten gegen Verkehrssicherheit und Lärmschutz sei nichts Neues: «Anscheinend wird Freiheit durch freie Fahrt definiert. Freiheit bedeutet für uns mehr Verkehrssicherheit und mehr Umweltschutz und Lärmschutz. Das wird mit der simplen Lösung von Tempo 30 in Quartieren, Städten und auf Hauptstrassen erreicht. Die meisten Menschen wollen an einer verkehrsberuhigten Strasse wohnen und ihre Rechte auf Verkehrssicherheit und Lärmschutz wahrnehmen, auch die Rechten. Das anderen nicht zu gönnen, ist unehrlich.»
«Alle fahren gut mit Tempo 30»
Stephan Iten (SVP) sah das logischerweise anders: «Wenn man von ruhigem Wohnen spricht, muss man Menschen an der Langstrasse ebenfalls berücksichtigen, die mit Partylärm zu kämpfen haben.» Der Stadtrat schreibe in der Vorlage, dass die Initiative nicht nötig sei, da der Bund das Strassenverkehrsrecht festlege, demgemäss innerorts Tempo 50 gelte: «Da frage ich mich, wieso der Stadtrat die Initiative ablehnt, wenn die Initiative fordert, was übergeordnet bereits festgelegt ist, und wieso der Stadtrat in der Stadt flächendeckend Tempo 30 einführen möchte. Der Stadtrat hält sich bei der Einführung der Temporeduktion allenfalls nicht an das übergeordnete Recht.» Zudem solle die Temporeduktion bis zum Jahr 2030 in der ganzen Stadt etappenweise eingeführt werden: «Das ist ein Stadtratsbeschluss in Eigenkompetenz, an dem der Stadttrat ohne Wenn und Aber festhält, ohne die Bevölkerung dazu zu befragen.» Die Stadtbevölkerung solle aber mitentscheiden können, «ob sie Entschleunigung auf den Zürcher Strassen und Schleichverkehr in ihrem Wohnquartier will».
Weshalb jemand wegen Tempo 30 auf einer Hauptstrasse in ein Wohnquartier ausweichen soll, wo ebenfalls Tempo 30 signalisiert ist, sagte er nicht. Dass in der Vorlage des Stadtrats zwar steht, dass der Bund Vorschriften über den Strassenverkehr erlässt, aber eben auch, dass die Stadt daher nicht befugt sei, den motorisierten Verkehr auf ihrem Hoheitsgebiet «per Rechtssatz generell zu regeln bzw. zu beschränken», sagte er ebenfalls nicht. Aber er ärgerte sich darüber, dass die Stadt 30 Jahre Zeit gehabt habe, um lärmarme Beläge und Lärmschutzwände einzubauen.
Stadträtin Karin Rykart ordnete ein: «Die Initiative reiht sich in Bemühungen auf Kantons- und Bundesebene ein, die Temporeduktionen auf verkehrsorientierten Strassen oder Hauptverkehrsachsen unterbinden wollen. Die kantonale Mobilitätsinitiative und öV-Initiative richten sich direkt gegen Städte wie Zürich. Diese Initiativen entziehen der Stadt Kompetenzen und untergraben die Gemeindeautonomie. Auch aus dem Bundeshaus kommen negative Signale. Mit der Motion Schilliger beauftragte die Bundesversammlung den Bundesrat, Tempo 50 für verkehrsorientierte Strassen innerorts gesetzlich festzulegen.» Und weiter: «Nach drei Jahrzehnten Erfahrung mit Tempo 30 in Zürich ist der Stadtrat überzeugt, dass Temporeduktionen sinnvolle Massnahmen sind, um Menschen vor Strassenlärm zu schützen und den Verkehr sicherer zu machen. Unsere Stadt hat wegen Tempo 30 nicht an Attraktivität verloren. Die Wirtschaft erlahmt nicht und die Wohnquartiere werden nicht mit Schleichverkehr belastet. Die Befürchtungen sind nicht eingetroffen – im Gegenteil: Alle fahren ziemlich gut mit Tempo 30.»
Carla Reinhard (GLP) verwies auf einen weiteren Vorteil: «Es ist erwiesen, dass eine Reduktion von Tempo 50 auf 30 die Unfallzahlen um mindestens einen Drittel senkt, was sie zum hocheffektiven Mittel zur Sicherheitssteigerung macht.» Andreas Egli (FDP) beindruckte dies gar nicht: «Wenn man sagt, dass man sicherer ist, je langsamer gefahren wird, vergisst man die Autobahnen, die mit Tempo 120 die sicherste Verkehrskategorie sind. Es liegt nicht an der Geschwindigkeit, sondern auch an der Signalisation und Verkehrsraumgestaltung.»
Markus Knauss (Grüne) erinnerte daran, dass die Zeiten sich ändern: «Die Initiative geht von einem autogerechten Stadtbild der 1950er aus. Dieses gibt es schlicht nicht. Die Menschen wohnen nicht ausserhalb dieser Strassen und Hauptverkehrsachsen, sondern direkt daran.» Michael Schmid (AL) blies ins selbe Horn: «Die Formulierung, dass man Verkehr nicht im Quartier haben will, ist grundsätzlich falsch: In der Stadt Zürich ist der Verkehr überall im Quartier.» Und weiter: «Man monierte, dass man 30 Jahre Zeit gehabt habe, Massnahmen zu ergreifen. Die geplanten Massnahmen wurden von der SVP, FDP und der Autolobby torpediert, bis Urteile vom Bundesgericht die Umsetzung von Tempo 30 als zwingend beschlossen. Es wurde gesagt, dass Mehrkosten für den öV entstehen. Die zusätzlichen jährlichen 15 Millionen Franken betragen drei Prozent des Jahresumsatzes der VBZ. Die externen Gesundheitskosten, die durch Lärm im Kanton Zürich verursacht werden, betragen 500 Millionen Franken – Kosten für Unfälle nicht miteingerechnet. Die Initiative basiert auf einem veralteten Stadtbild, das nicht umsetzbar ist und es nie war.» Schliesslich beschloss der Rat, die Initiative für gültig zu erklären und sie abzulehnen. Wenige Wochen später zeigte sich allerdings, dass die ganze lange Debatte umsonst gewesen war: Die Initiative wurde zurückgezogen, weil sich das Initiativkomitee bessere Chancen ausrechnete, wenn über ihr Begehren im ganzen Kanton abgestimmt würde und nicht bloss in der Stadt Zürich.
Angst vor dem Volkswillen oder Verbotskultur?
Daran erinnerte die SP an der Gemeinderatssitzung vom vergangenen 2. April (siehe P.S. vom 4. April) in ihrer Fraktionserklärung mit dem Titel «Hört endlich auf mit der Verbotskultur für die Städte Zürich und Winterthur». Hintergrund der Erklärung war natürlich die Mobilitätsinitiative, die der Kantonsrat am 31. März angenommen hatte, siehe oben. Die SP warf der SVP unter anderem vor, sie habe die städtische Initiative gegen Tempo 30 «aus Angst vor einem Nein der städtischen Bevölkerung» zurückgezogen: «Die selbsternannte Volkspartei, die so gerne vom Volkswillen spricht, möchte diesen nur hören, wenn er ihrer Meinung entspricht.» Stephan Iten (SVP) fühlte sich offensichtlich angesprochen: «Ihr seid die einzige Verbotspartei!», rief er in den Saal. Zusammengefasst lässt sich zum Thema Tempo 30 nur eines mit Sicherheit sagen: Mit dem Ja des Kantonsrats zur Mobilitätsinitiative und zum Gegenvorschlag zur öV-Initiative ist im Kanton Zürich in Sachen Tempo 30 noch längst nicht das letzte Wort gesprochen.
Daran dürfte auch die Zustimmung der eidgenössischen Räte zur Motion von Peter Schilliger (FDP) mit dem Titel «Hierarchie des Strassennetzes innerorts und ausserorts sichern» nichts ändern. Dabei ist es durchaus originell, mit der Hierarchie des Strassennetzes zu argumentieren, wenn man hauptsächlich Tempo 30 verhindern will. In der Begründung seiner Motion steht etwa dies: «Gegenwärtig verbreitet sich die Geschwindigkeitsbegrenzung innerorts auf 30 km/h in vielen Städten und Gemeinden auf chaotische Weise, auch auf verkehrsorientierten Strassen. Dies führt zu einer Schwächung der Funktionalität des Strassennetzes und dazu, dass die Verkehrsteilnehmer die geltenden Regelungen (generell Tempo-50, Abschnitt Tempo-30, Tempo-30-Zone oder Begegnungszone) weniger gut erkennen, was auch bezüglich dem strengen schweizerischen Sanktionssystem problematisch ist.»
Wer hinter dem Steuer hervor nicht mehr durchblickt, was gilt, soll das durch schnelleres Fahren kompensieren dürfen? Kann man fordern, kann man im bürgerlichen Parlament zu Bern offensichtlich erfolgreich fordern. Darauf, was der Bundesrat damit anfängt, der die Motion ablehnt, darf man jedenfalls gespannt sein. Aus Bern ist übrigens zu hören, der Motionär wohne an einer verkehrsberuhigten Sackgasse. Aber das tut natürlich nichts zur Sache.