Meret Lütolf: «Die Elternzeit und der Kita-Platz müssen Hand in Hand gehen.» (Bild: Gian Hedinger)

«In der Familienpolitik fehlt die Koordination»

Bei der Elternzeit hinkt die Schweiz hinterher. Eine Initiative, die im Frühling lanciert werden soll, fordert deshalb eine nationale Regelung von 18 Wochen Zeit pro Elternteil. Im Gespräch mit Gian Hedinger erzählt die Politikwissenschaftlerin Meret Lütolf, wie die optimale Elternzeit gestaltet wäre und wieso sie eine gleich lange Elternzeit für beide Elternteile befürwortet.

Vor Ihnen liegt ein ausführlicher Bericht des Bundes zum Thema Elternzeit, der letzte Woche erschienen ist. Der Übertitel lautet «Elternurlaubsmodelle». Was stört Sie daran?

Meret Lütolf: Der Begriff Urlaub ist irreführend. Die ersten Wochen und Monate nach einer Geburt sind von körperlichen und emotionalen Anpassungen geprägt und haben mit einem Urlaub nicht viel gemeinsam. Vielmehr stehen der Heilungs- und Erholungsprozess des Körpers nach extremen körperlichen Strapazen und die Neugestaltung des Alltags im Vordergrund – nicht eine klassische Erholungsphase vom Alltag, wie es das Wort ‹Urlaub› suggeriert. In diesem Kontext von ‹Urlaub› zu sprechen, wird den Herausforderungen dieser Phase nicht gerecht.

Warum wird der Begriff dann immer noch verwendet?

Ich denke, es fehlt die Sensibilität. Und wer selbst keine Kinder hat, kann sich schwer vorstellen, wie tagesfüllend ein Neugeborenes sein kann. In der Öffentlichkeit sehen wir nur einen kleinen Ausschnitt, zum Beispiel wie junge Mütter mit dem Kinderwagen im Kaffee sitzen, aber all die Arbeit, all die medizinischen Komplikationen oder auch postnatalen Depressionen bleiben im Verborgenen. Viele unterschätzen auch einfach, wie gross die Belastung durch eine Geburt sein kann. Ein Kaiserschnitt ist eine offene Bauchoperation. Wer sonst eine Bauchoperation hat, ist für eine längere Zeit krankgeschrieben. Nach einem Kaiserschnitt hingegen herrscht die Erwartung, dass sich die Mutter danach mehr oder weniger sofort um ein Neugeborenes kümmert.

Sprechen wir also von der Elternzeit. Wo steht die Schweiz da im internationalen Vergleich?

Durch die sehr geringe Dauer von insgesamt 16 Wochen (14 für die Mutter und zwei für den Vater) steht die Schweiz im internationalen Vergleich weit unten, da heute die grosse Mehrheit der Länder eine Form von Elternzeit kennt. In einem Forschungsprojekt habe ich die Elternzeit von verschiedenen Ländern verglichen und einen Index erstellt, der die verschiedenen Modelle vergleicht, wenn beide Elternteile ihren Anteil an Elternzeit beziehen. Norwegen kommt in diesem Index auf einen Wert von 2,89, Deutschland auf 1,82 und Japan auf 1,64. Die Schweiz schneidet mit –0,39 ab. Auch Mexiko und Chile erreichen einen höheren Wert als die Schweiz. 

Wie kommt das?

Im europäischen Kontext ist sicher die Rolle der EU wichtig. Es gibt EU-Richtlinien zur Elternzeit, die die Mitgliedstaaten umsetzen müssen. So haben viele Länder ihre Regelungen ausgebaut. Auch der Reichtum spielt eine Rolle. Vergleichsweise können es sich viele Menschen in der Schweiz leisten, nach einer Geburt einige Monate unbezahlten Urlaub zu nehmen. Dieses Privileg haben beispielsweise in Deutschland weniger breite Teile der Bevölkerung, was auch ein Grund ist, wieso mehr Druck für politische Massnahmen herrschte. Hinzu kommt das politische System der Schweiz mit dem Föderalismus und der direkten Demokratie. Kinderkriegen und das Thema Familie wird in der Schweiz immer noch stark als Privatsache betrachtet, aus der sich der Staat rauszuhalten hat, anders als bei unseren Nachbarländern. 

Wie sähe denn eine perfekte Elternzeit nach Ihren Vorstellungen aus?

Perfekt ist natürlich immer eine Frage der Perspektive. Aus Sicht der Eltern ist sicher einmal die Flexibilität zentral. In Schweden zum Beispiel kann die Zeit gar in Achteltagen, also praktisch stundenweise, bezogen werden. So können Eltern nach der Geburt ihr Erwerbspensum mit der Elternzeit reduzieren und Erwerbs- und Carearbeit nach individuellen Bedürfnissen kombinieren. Dann ist der Übergang auch nicht so hart wie in der Schweiz, wo das Gesetz vorsieht, dass Mütter Elternzeit und Erwerb nicht kombinieren können, also beim Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt die Elternzeit endet. Je flexibler die Bezugsmöglichkeiten von Elternzeit sind, desto schwieriger ist die Organisation für die Arbeitgebenden, insbesondere für kleinere Unternehmen.  Ich denke, es ist wichtig, dass eine Elternzeit eine Vielzahl von Modellen ermöglicht und niemandem etwas aufdrängt, sondern Familien eine Wahlfreiheit bietet. 

Und wie lange wäre die Elternzeit optimalerweise?

Das kommt immer auf das Ziel der Massnahme an. Zur Förderung der Gleichstellung ist es zum Beispiel wichtig, mit welchem Modell Mütter wieder in den Arbeitsmarkt zurückkehren, da es sonst zu Ungleichheiten beim Einkommen und bei der Rente führt. Es gibt dazu verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, dass die Elternzeit nicht zu kurz sein darf, weil sonst viele Mütter aus dem Arbeitsmarkt aussteigen, und eine Elternzeit von über einem Jahr auch nicht förderlich ist. Dann ist die Rückkehr an den Arbeitsort schwierig.

In der Schweiz wird bald eine Initiative für eine Elternzeit von je 18 Wochen pro Elternteil lanciert. Wie finden Sie diesen Vorschlag?

Die Richtung stimmt und im Vergleich zur heutigen Situation wäre dies sicher ein wichtiger Schritt für die Gleichstellung. Aus wissenschaftlicher Sicht sind 18 Wochen allerdings zu kurz. Die Forschung zeigt deutlich, dass eine Elternzeit zwischen sechs und 12 Monaten ideal ist, um den gesundheitlichen Aspekten von Mutter und Kind, der Entwicklung des Kindes, der Vater-Kind-Beziehung, der Gleichstellung, der Arbeitsmarktbeteiligung der Mutter und damit verbunden den wirtschaftlichen Vorteilen und vielen mehr gerecht zu werden. Wichtig ist dabei aber, dass diese Zeit beiden Eltern individuell zur Verfügung gestellt wird, gerade wenn Gleichstellung gefördert werden soll.

Mutter und Vater zu werden ist nicht das Gleiche, findet aber zum Beispiel die feministische Organisation «Eidgenössische Kommission dini Mueter». Sie haben ja die gesundheitliche und körperliche Erholung der Mutter auch angesprochen.

Die körperliche und auch emotionale Erholung der Mutter nach der Geburt ist essenziell und wird durch den Mutterschutz massgeblich gewährleistet. Da ist sich die Forschung und auch beispielsweise die Internationale Arbeitsorganisation der UNO völlig einig. Dies wird mit der paritätischen Lösung auch nicht angefochten, da der Mutterschutz weiterhin bestehen bleibt. Vielmehr geht es um die Zeit danach, also die individuelle Zeit, die nur der Mutter zur Verfügung steht und diese wird ja im Vergleich zu heute verlängert. Ich würde vielmehr argumentieren, dass sie sich viel besser erholen kann, wenn sich der Vater in dieser Anfangszeit um das Neugeborene kümmern kann und sie nicht nach wenigen Tagen (oder zwei Wochen) auf sich alleine gestellt ist. 

Apropos anderer Elternteil: Die ersten Zahlen nach der Einführung der zweiwöchigen Vaterschaftszeit zeigten, dass nur 70 Prozent der Väter diese Zeit bezogen haben. Warum übernehmen nicht mehr Väter Verantwortung?

Gesetzesänderungen brauchen Zeit. Als das Frauenstimmrecht eingeführt wurde, dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis die Frauen in vergleichbarem Umfang an Abstimmungen teilnahmen wie die Männer. 

Vor zwei Jahren gab es in den Kantonen Bern und Zürich Abstimmungen über eine Elternzeit. In beiden Abstimmungen stimmten über 60 Prozent gegen eine Elternzeit. Ist eine Elternzeit in der Schweiz nicht mehrheitsfähig?

Das würde ich so pauschal nicht sagen. Bei diesen Abstimmungen kam oft das Argument, dass eine Elternzeit nicht Sache der Kantone sei und national geregelt werden müsste. Auch der Regierungsrat in Bern warnte vor einem Alleingang und vor Mehrkosten, die auf den Kanton zukommen würden. Das hat wohl einige abgeschreckt. Insofern könnte die Zustimmung bei einer nationalen Vorlage höher sein. Zudem wurde gleichzeitig mit Bern in Genf eine entsprechende Vorlage angenommen.

Die Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF) veröffentlichte bereits 2010 einen Modellvorschlag für eine Elternzeit in der Schweiz. Wie kommt es, dass wir trotzdem noch keine Elternzeit haben?

Die Familienpolitik ist in der Schweiz eine Querschnittsaufgabe. Im Gegensatz dazu haben beispielsweise unsere Nachbarländer alle ein Ministerium, das Familien schon im Namen trägt. In der Schweiz ist die Familienpolitik im Innendepartement und dort wiederum im Bundesamt für Sozialversicherungen angesiedelt. Die EKFF hat auf der Geschäftsstelle eine Leiterin und eine wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die beiden machen einen super Job, aber sie sind halt nur zu zweit. Diese Strukturen haben auch ganz reale Auswirkungen: Es fehlt der Schweiz in der Familienpolitik oftmals die Koordination und durch den Föderalismus finden sich die Zuständigkeiten bei Bund, Kantonen und Gemeinden. Mit einer ausgebauten Elternzeit könnte zum Beispiel der Bedarf an Kita-Plätzen für unter Einjährige gesenkt werden. Diese Plätze haben einen höheren Betreuungsschlüssel und sind somit auch teurer. Aktuell ist das überhaupt nicht aufeinander abgestimmt und führt zu einer mehrjährigen Betreuungslücke, was in anderen Ländern durch einen nahtlosen Übergang vom Ende der Elternzeit zu einem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz koordiniert und klar geregelt ist.

Nun ist es aber so, dass in der Schweiz mit der bürgerlichen Mehrheit im Parlament Gelder im Sozialbereich rar sind. Würde man das Geld für die Elternzeit nicht besser in Kita-Plätze investieren, die Familien viel länger entlasten?

Ich finde es schwierig, wenn diese Anliegen gegeneinander ausgespielt werden. Die Elternzeit und der Kita-Platz müssten eigentlich Hand in Hand gehen. Zur Förderung der Gleichstellung ist der Fall aus wissenschaftlicher Sicht aber klar: Die Elternzeit erreicht mehr. Direkt nach der Geburt organisiert sich die Familie neu, müssen neue Rollen gefunden werden und entstehen die neuen Strukturen, und dort lohnt es sich anzusetzen. Viele Studien zeigen, dass ein Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten den mütterlichen Erwerb zwar steigern kann, doch die Rollen und damit verbundenen Verantwortlichkeiten innerhalb der Familie bleiben bestehen. Die Mutter bleibt der «default Parent» und weiss, wie die Kinderärztin heisst, welcher Nuggi dem Kind passt und aus welchem Becher das Kind am liebsten trinkt. Sollen hingegen die Männer in ihrer Rolle als Vater gestärkt werden und die Gleichstellung auch in Bezug auf die unbezahlte Arbeit vorangetrieben werden, dann geschieht dies direkt nach der Geburt. Wenn wir Vätern Zeit geben, um ihrer Verantwortung nachzukommen, dann kann sich strukturell etwas ändern. Um dann aber nach der Elternzeit effektiv Erwerb und Familie vereinbaren zu können, sind familienergänzende Kinderbetreuungsmöglichkeiten unabdingbar.

Die EKFF nennt in ihrem Argumentarium neun Vorteile. Unter anderem lohne sich Elternzeit für Unternehmen, stärke die Gesundheit der Kinder und sei auch volkswirtschaftlich ein Gewinn.

Und das sind bei Weitem noch nicht alle Argumente. Da gibt es zum Beispiel noch die Gross­eltern, die in der Schweiz vergleichsweise viel Betreuungsarbeit übernehmen. Viele Grossmütter lassen sich frühpensionieren oder reduzieren ihr Arbeitspensum, um die Betreuung der Grosskinder zu übernehmen. So verlieren wir wichtige und vollständig ausgebildete Arbeitskräfte und deren Arbeitserfahrung. Natürlich sollen Grosseltern auch ein Teil der Kinderbetreuung sein, wenn sie das wollen. Aber aktuell ist es für viele Familien ohne diese Unterstützung überhaupt nicht möglich. Ein ganz anderes Beispiel ist eine neue Studie, die eine Reduktion der sexistischen Einstellung von Männern im Zusammenhang mit Elternzeit feststellen konnte. So kommen immer neue Erkenntnisse hinzu und werden die Vorteile der Elternzeit immer vielfältiger.