Die Schweizerische Gesellschaft für ME/CFS geht heute von 60 000 Betroffenen aus. (Bild: Gian Hedinger)

In Bern für alle, die es nicht können

Mitte Mai fand auf dem Bundesplatz eine Kundgebung für die Betroffenen von ME/CFS statt. Aline* leidet seit knapp acht Jahren an der Krankheit und erzählt von ihrer Geschichte und dem Abwasch, den sie neben so vielem anderen nicht mehr erledigen kann.

Damit Aline* an diesem Samstagnachmittag auf dem Bundesplatz sein kann, hat sie sich die ganze Woche geschont. Sie hat ihre Aktivitäten auf ein Minimum reduziert, ist bereits am Vorabend von ihrem Wohnort in Zürich nach Bern zu ihrer Mutter gefahren und hat sich den ganzen Morgen lang ausgeruht. Aline leidet unter myalgischer Enzephalomyelitis, kurz ME, das auch Chronic Fatigue Syndrome (CFS) genannt wird, was von Betroffenen und Patient:innenorganisationen aber als verharmlosend empfunden wird (siehe Box). Doch an diesem Samstag an der Kundgebung auf dem Bundesplatz zu sein, sei ihr wichtig. «Millions Missing» – Millionen Vermisste, heisst die Kundgebung, die die Schweizerische Gesellschaft für ME & CFS organisiert hat. Einige hundert Personen, die meisten in roten T-Shirts, stehen vor dem Bundeshaus, sichtbar für alle, die unsichtbar geworden sind. Die Schwerstbetroffenen von ME/CFS sind bettlägerig, vertragen kein Licht, keine Geräusche, bereits die kleinsten Reize können ihre Symptome verschlimmern. Sie können nicht mehr am Leben teilnehmen und sind so nicht nur erkrankt, sondern eben vermisst – und dadurch unsichtbar für die Gesellschaft. An Pavillons und einem übergrossen Bett sind Steckbriefe von Betroffenen angepinnt. Darauf schreiben sie, wie lange sie schon an ME/CFS leiden und was sie am meisten vermissen. Die Antworten darauf sind Dinge wie «fünf Minuten stehen können», «die Wohnung verlassen» oder «einen Tag ohne Schmerzen erleben» – Aline benutzt für ihren Alltag mittlerweile einen Rollstuhl, und doch erwähnt sie im Gespräch immer wieder ihre privilegierte Position: Sie könne immerhin rausgehen, in reduziertem Pensum arbeiten und für sich selber sprechen. 

Me, CFS oder beides?

Den Begriff Chronic Fatigue Syndrom (CFS) für die Myalgische Enzephalomyelitis (ME) zu verwenden ist umstritten. Denn die Zustandsverschlechterungen, die bei ME vorkommen, sind nicht auf eine chronische Erschöpfung zurückzuführen, sondern auf eine Post-Exertionelle Malaise, also eine Verschlechterung nach Belastung. «Der Begriff Chronic Fatigue Syndrom wird weder dem Schweregrad noch der Spezifität der Krankheit ME gerecht», sagt Jonas Sagelsdorff, Geschäftsleiter der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS dazu. Während fast alle, die an ME erkrankt sind, auch die Diagnosekriterien für CFS erfüllen, erfüllen umgekehrt nur etwa ein Drittel bis die Hälfte aller CFS Patient:innen die Kriterien für ME.

Krank im Verborgenen

Angefangen hat Alines Krankheit 2017. Nach einer Mononukleoseninfektion ist sie monatelang erschöpft. Sechs Monate nachdem die Krankheit ausgebrochen ist, hat sie manchmal kaum Energie, um aufzustehen und auf die Toilette zu gehen. Sie geht zu Ärzt:innen, Spezialist:innen und schreibt eine Liste, welche Krankheiten infrage kommen könnten. Sie versucht ihre Erschöpfung mit Sport zu bekämpfen, den sie vorher gerne gemacht hat, geht klettern, macht Sportakrobatik und geht ins Fitness, doch ihr Zustand wird immer schlechter. Regelmässig ‹crasht› sie. «Ein Crash fühlt sich an, als hätte ich am Vortag extrem viel Sport gemacht, viel Alkohol getrunken, keine Minute geschlafen und müsste dann den ganzen Tag noch mit einer schweren Gewichtsdecke herumlaufen», beschreibt Aline. Mit jedem Crash geht es ihr schlechter, irgendwann habe sie sich so gefühlt, als hätte sie auch an den guten Tagen eine dauerhafte Grippe.

In einem Zeitungsartikel über eine chronische Form des Pfeifferschen Drüsenfiebers liest sie zum ersten Mal von ME/CFS und spricht ihren Arzt auf die Krankheit an. Zwei Jahre vergehen, in denen Aline Ärzt:innen und Spezialist:innen besucht, auf Ergebnisse wartet und schliesslich mit ME/CFS diagnostiziert wird. «Wenn ich das mit anderen ME/CFS-Patient:innen vergleiche, ging es bei mir sehr schnell», sagt Aline. Laut einer Studie zur Versorgungslage von ME/CFS-Patient:innen in der Schweiz vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut vergehen im Durchschnitt 6,7 Jahre bis zur Diagnose, in denen Erkrankte durchschnittlich von mehr als 11 Ärzt:innen behandelt werden. Für ME/CFS gibt es keinen Biomarker, an dem die Krankheit festgestellt werden kann, diagnostiziert wird im Ausschlussverfahren. Dazu kommt, dass auch viele Fachpersonen noch nie von der Krankheit gehört haben. Das führt dazu, dass Ärzt:innen zu mehr Bewegung und Sport raten, obwohl genau das Gegenteil ratsam wäre.

Dabei ist ME/CFS verbreiteter als zum Beispiel Multiple Sklerose. Von tausend Menschen leiden je nach Studie zwischen zwei und vier Personen an ME/CFS. Für die Schweiz rechnete der Verein ME/CFS Schweiz vor der Corona-Pandemie mit 17 000 bis 34 000 Betroffenen. Durch Covid dürfte die Zahl der Erkrankten aber noch einmal deutlich gestiegen sein. Die Schweizerische Gesellschaft für ME/CFS geht heute von 60 000 Betroffenen aus, wovon 60 Prozent arbeitsunfähig und etwa ein Viertel bettlägerig und hausgebunden seien. Offizielle Zahlen für die Schweiz wurden bisher nie erhoben. Die Invalidenversicherung sieht ME/CFS meist als psychosomatisches Leiden an, Betroffene erhalten in vielen Fällen keine oder nur bedingte Leistungen ausbezahlt. In der Studie des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts geben über 90 Prozent der Betroffenen an, dass ihre Beschwerden als psychosomatisch abgetan wurden.

Auch Aline wurde zuerst auf Verdacht von psychischen Problemen krankgeschrieben. Tatsächlich sei sie damals in eine kleine Depression geraten, sagt sie rückblickend. «Die grosse Unsicherheit und die Beschwerden schlagen früher oder später auf die psychische Gesundheit. Das ist ja das Perfide daran.» Psychisch sei es ihr dank der Therapie schnell wieder besser gegangen, doch die Beschwerden blieben. Nachdem Aline ihr Doktorat abschliesst, fällt sie in den tiefsten und längsten Crash. Zwei bis drei Monate lang fehlt ihr jede Energie. Sie ist bettlägerig und jeden Tag nur für kurze Zeit ansprechbar. «Ich konnte jeweils zwanzig Minuten am Stück etwas am Fernseher schauen und habe dabei eine Sonnenbrille und Oropax getragen, damit es mir nicht zuviel wird.» Es habe sich angefühlt, als sei sie im eigenen Körper gefangen. «Ich lag neben meinem Partner im Bett, aber ich schaffte es nicht zu sprechen, um ihm mitzuteilen, dass ich ein Bedürfnis habe. Ich war schlicht nicht fähig, mit der Aussenwelt zu interagieren.» Aline musste lernen, in ihren engen Energiegrenzen zu bleiben und sich nicht zu überanstrengen. «Pacing» heisst dieses Vorgehen. Durch konsequentes Energiemanagement konnte sie sich soweit stabilisieren, dass sie zuerst vom Bett auf das Sofa und dann immer weiter kommen konnte.

Ihr Partner und ihr Umfeld seien in dieser Situation sehr unterstützend gewesen. Doch Aline fällt es anfangs schwer, sich ihrem Umfeld zu öffnen. «Besonders vor der Diagnose war ich sehr privat. Ich hatte Angst, dass ich mir alles eingebildet habe und mein Umfeld nun damit belaste.» Als sie ihren Partner kennenlernt, trifft sie ihn jeweils am Abend, und während er am nächsten Tag arbeiten geht, crasht sie. «Man kann leichte Formen von ME/CFS ziemlich gut verstecken», sagt Aline. Während des rund 45-minütigen Gesprächs für diesen Text ist ihr dann auch nichts anzumerken, sie spricht klar und wirkt nicht, als würde es sie erschöpfen, auf die Fragen zu antworten. Das sei für sie auch bei der Arbeit schwierig, erzählt sie. «Die Leute sehen mich und sehen ausser dem Rollstuhl kein Merkmal einer Einschränkung, aber wenn ich von einem Arbeitstag nach Hause komme, lege ich mich zuerst eine Stunde flach hin und brauche absolute Ruhe.» Auch die Unterstützung des Umfelds sei für Aussenstehende nicht sichtbar. Mittlerweile habe sie sich etwas daran gewöhnt, Hilfe anzunehmen, doch manchmal, wenn zum Beispiel ihre 70-jährige Mutter im Haushalt hilft und sie nur daneben sitzen könne, dann sei es schwierig, das zu akzeptieren. Besonders, weil Aline nicht weiss, ob ihre Krankheit jemals heilt.

Planung statt Heilung

Aktuell gibt es in der Schweiz keine zugelassenen Medikamente gegen die Krankheit. Manche Betroffene greifen deshalb zu «Off-Label»-Medikamenten, die nicht für ME/CFS zugelassen sind, aber die Symptome bessern können. Seit letztem Jahr setzt auch Aline solche Medikamente ein, sonst versucht sie aber nicht, jede neue Therapie auszuprobieren. «Es braucht jedes Mal extrem viel Energie und auch finanzielle Ressourcen, etwas Neues zu machen. Besonders wenn man Hoffnung schöpft und dann enttäuscht wird.»

Stattdessen hat sie viele Selbstexperimente gemacht und alles dokumentiert. «Ich bin Aktivitäten durchgegangen und habe versucht, sonst möglich wenig zu ändern. Dann habe ich geschaut: Wie geht es mir nach einem Spaziergang? Wie reagiert mein Körper auf ein Glas Wein?» So habe sie sich besser kennengelernt und gemerkt, welche Belastungen ihr Körper verträgt und was ihn überlastet. Dank diesen Experimenten und genauer Belastungsplanung ist sie nun schon seit drei Jahren ohne Crash.

Für die ersten Stunden nach der Kundgebung haben Aline und ihre Mutter ein Protokoll abgemacht, an das sich die beiden halten werden. Die ersten eineinhalb Stunden wird sie sich hinlegen, ihre Mutter wird in dieser Zeit noch nicht mit ihr sprechen, sonst könnte es zu viel werden.

*Vollständiger Name der Redaktion bekannt