«Im Zentrum steht die Sache»

Morgen Samstag bestimmt die SP Kanton Zürich, mit wem sie in den Regierungsratswahlkampf steigen will. Die Nomination sowohl der bisherigen Regierungsrätin Jacqueline Fehr als auch der neu kandidierenden Nationalrätin Priska Seiler Graf gilt als Formsache. Was sie am Amt reizt und welche inhaltlichen Schwerpunkte sie setzen möchten, erklären die beiden im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Was haben Sie als Regierungsrätin so gut gemacht, dass wir Sie 2023 unbedingt wieder wählen sollten?

Jacqueline Fehr: In meiner Direktion haben wir im Bereich häusliche Gewalt viel erreicht, wir konnten die Opferhilfe ausbauen und die Frauenhäuser auf eine bessere Grundlage stellen. Die Umsetzung der Istanbul-Konvention ist ein wichtiger Schritt, und aktuell steht natürlich die Integration im Vordergrund: Die Menschen, die aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet sind, sollen die – auch finanzielle – Unterstützung erhalten, die sie brauchen, sei es in Form von Sprachförderung, Zugang zum Arbeitsmarkt oder schlicht Informationen zur Bewältigung des Alltags.

 

Sie schauen auch gut zu den Kulturschaffenden – zu Corona-Zeiten zu gut, fand der Bund.

J.F.: Den Kulturschaffenden konnten wir tatsächlich helfen. Der Kanton wäre auch bereit gewesen, unbürokratischer zu helfen, doch der Bund hat uns ausgebremst. Weitere Schwerpunkte in meiner Direktion waren der Kontakt zu den Religionsgemeinschaften. Mit den Projekten muslimische Seelsorge und Ausbildung von Imamen und religiösen Betreuungspersonen haben wir schweizweit Pionierarbeit geleistet. Ich habe als Präsidentin den Regierungsrat gut durch das zweite Corona-Jahr geführt. Ich konnte das Thema EU wieder auf die Agenda des Regierungsrats setzen und zusammen mit Baudirektor Martin Neukom den Klimadialog mit den Gemeinden aufgleisen.

 

Priska Seiler Graf, was führen Sie für Gründe ins Feld, weshalb wir mit Ihnen 2023 eine zweite SP-Frau in die Regierung wählen sollten?

Priska Seiler Graf: Dieses Amt würde mich sehr reizen. Ich bin der ‹Exekutivtyp› und habe zehn Jahre Erfahrung als Stadträtin in meiner Heimatstadt Kloten. In Exekutivämtern geht es darum, gemeinsam Lösungen zu finden und Verantwortung zu übernehmen. Das gefällt mir. Für gute Lösungen muss man kämpfen. Aber nicht mit der Dampfwalze. Wer auf Maximalforderungen beharrt, kommt nicht weit. Man muss kreativ sein, Ideen einbringen und gleichzeitig bereit sein, zuzuhören und Kompromisse einzugehen. Das macht mir Spass. Ich habe das auch als Nationalrätin nicht verlernt. Ich habe mich mit dem Wechsel nach Bern ja nie vom Kanton gelöst, ich bin nach wie vor Co-Präsidentin der SP Kanton Zürich. Und es schauen bekanntlich ja auch alle nach Zürich… (lacht).

 

Tun sie das?

P.S.G.: Sie geben es nicht unbedingt zu, aber sie tun es. Vieles, was wir in unserem Kanton machen, hat Vorbildcharakter. Der Kanton Zürich ist ein fortschrittlicher Kanton – und könnte es noch mehr sein: Das dachte ich ab und zu während meiner zehn Jahre als Kantonsrätin. Ja, ich habe die ganze Ochsentour absolviert, wie es so schön heisst, aber dadurch bin ich zur Politikerin geworden, die ich heute bin: Ich komme mit den unterschiedlichsten Menschen gut aus und bin es gewohnt, mit Bürgerlichen zusammenzuarbeiten, ich bin schliesslich ein Agglokind.

 

Ist das eine Auszeichnung?

P.S.G.: Damit ist gemeint, dass ich in der Agglo aufgewachsen bin, also da, wo heute die Post abgeht. Die Agglo sollte deshalb dringend ein eigenes Gesicht bekommen. Ein Beispiel: Die kleinen und mittleren Städte nehmen zurzeit 80 Prozent des Bevölkerungswachstums auf. Doch beim Verkehr haben sie nicht viel zu sagen, da ist der Kanton am Drücker. Und dann gibt es Bereiche, wo grosse Differenzen herrschen. Etwa bei der Bildung oder der Kinderbetreuung. Da gibt es Städte, die sich stark engagieren, und andere, die nur das Nötigste machen. Es darf aber nicht sein, dass die Bildungschancen unserer Kinder davon abhängen, wo sie zur Schule gehen. Die Städte in der Agglo müssen in der Kantonsregierung deshalb gut vertreten werden, und dazu möchte ich gern Hand bieten.

 

Themenwechsel: Nicht so gut gelaufen ist es Ihnen, Frau Fehr, im Fall ‹Brian›, wo gar der Vorwurf der Folter auftauchte.

J.F.: Zum Fall «B.K.» nur soviel: Es geht nicht an, dass der Sonderberichterstatter der Uno von Folter spricht, ohne sich vor Ort ein Bild von den Haftbedingungen gemacht zu haben. 

 

Aber auch das harte Regime in der Untersuchungshaft wird kritisiert.

J.F.: Da werden zwei Haftformen verwechselt. Während der ersten 96 Stunden Haft nach einer Festnahme – man sagt dem vorläufige Festnahme – herrscht tatsächlich ein strenges Regime. Anders die Untersuchungshaft. Dort haben wir grosse Reformen umgesetzt: Heute gibt es in der Untersuchungshaft den sogenannten Gruppenvollzug, das heisst, die Zellen sind bis zu neun Stunden pro Tag offen und die Gefangenen können auf den Gängen zirkulieren, haben Zugang zu Bildung und Sport, können duschen etc. 

Die vorläufige Festnahme wurde bisher im Provisorischen Polizeigefängnis Propog auf der Kasernenwiese durch die Kantonspolizei durchgeführt. In wenigen Tagen wechselt sie ins PJZ und wird eine Aufgabe der Abteilung Untersuchungshaft von Justizvollzug und Wiedereingliederung (JuWe), also meiner Direktion. Im Herbst wird dann in einem zweiten Schritt auch der Bereich Untersuchungshaft im PJZ eröffnet. Letztes Wochenende fand ein Testversuch für die vorläufige Festnahme statt. Ich habe ebenfalls da­ran teilgenommen.

 

Sie sassen 96 Stunden allein in einer Gefängniszelle?

J.F.: Nein, so lange nicht, es waren rund 16 Stunden und wir waren zu zweit. Aber das Prozedere war fast dasselbe, wie es Tatverdächtige über sich ergehen lassen müssen: persönliche Gegenstände abgeben, einheitliche Kleider anziehen, zuhören, wie die Zelle von aussen verschlossen wird – das volle Programm. Ich wollte mal selber erleben, was es bedeutet, wenn die Zellentür geschlossen wird. Schliesslich trage ich die politische Verantwortung für den Freiheitsentzug im Kanton Zürich. Ich habe dabei grossen Respekt vor der Arbeit meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie arbeiten empathisch und professionell, davon konnte ich mich beim Testbetrieb erneut überzeugen. 

 

Als Sie, Priska Seiler Graf, 2017 zusammen mit Andreas Daurù das Co-Präsidium der SP Kanton Zürich übernahmen, galten Sie als sehr gemässigte Linke. Unterdessen sind Sie Nationalrätin und, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, zunehmend nach links gerückt.

P.S.G.: Man wird als Politikerin einfach gern in Schubladen gesteckt, mal in die rechte, dann wieder in die linke, aber keine Angst: Ich bin immer die Gleiche und fühle mich sehr eingemittet in meiner Partei. Die SP lässt Entwicklungen zu, die Vielfalt ist in der SP gross, und das ist eine ihrer Stärken. Ich wollte nie einem ‹Flügel› angehören, mir ist es wohl mitten in einer Partei, die für eine soziale, fortschrittliche, nachhaltige Politik steht und dabei stets die Menschen in den Vordergrund stellt. Wenn schon, geht es nicht um rechts oder links, sondern darum, dass man als Mitglied einer Exekutive eine andere Rolle hat denn als Parlamentarierin: Im Parlament ist es wichtig, zu markieren, wo man steht, zum Beispiel aktuell in der Sicherheitspolitik, die jüngst sehr wichtig geworden ist.

 

Mal abgesehen vom Rechts-Links-Schema verliert die SP bei Wahlen, in den Zürcher Parlamenten sind es aktuell minus 18 Sitze. Das färbt auch auf das Co-Präsidium ab.

P.S.G.: Ja, es gab Verluste, doch der Abwärtstrend ist gestoppt. Was wir im Kanton Zürich bei den Wahlen 2018 dazugewonnen haben, ist wieder verloren gegangen, doch seit den letzten Wahlen in den National- und Ständerat geht es mindestens punkto WählerInnen­anteil wieder aufwärts. Vor allem aber sind wir stark in den Exekutiven, man vertraut uns Regierungen an und traut uns die dafür nötige Kompetenz und Verantwortung zu. Darauf können wir aufbauen. Und wie der leider verstorbene Ruedi Lais es auszudrücken pflegte: Trends kann man nicht brechen, nur abschwächen oder ausbauen. Zurzeit ist die grüne Welle sehr stark, aber es kommen auch wieder andere Themen in den Fokus.

J.F.: Sozialdemokratisch regieren heisst, mit Verantwortung regieren. Die Wählerinnen und Wähler wissen, dass wir das tun. Deshalb zeigt bei den Exekutivwahlen der Trend der letzten Jahre nach oben: Und das ist auch der Grund, weshalb der Kanton Zürich viel sozialdemokratischer ist, als er es aufgrund der WählerInnenstärke sein müsste. Dazu kommt, dass gerade in der Krise praktisch alle Regierungen von links bis fast rechts sozialdemokratische Politik gemacht haben. Die Covid-Bekämpfung war wie unserem Parteiprogramm abgeschrieben. Dieser Erfolg hat seinen Preis. Es gibt weniger Anlass für eine starke parlamentarische Gegenkraft. Anders beim Klimathema: Hier geht zu wenig und das machen die WählerInnen mit dem Akzent bei den grünen Parteien klar. Ich kann das verstehen. Grün ist also weniger eine Wahl als vielmehr ein Auftrag, auch an die SP. Denn die SP ist die eigentliche Nachhaltigkeitspartei, indem sie soziale, ökologische und wirtschaftliche Kompetenz miteinander verbindet.

P.S.G.: Ja, Wahlen sind das eine. Aber im Zentrum steht die Sache. Das beweisen wir zum Beispiel bei der Volksinitiative für einen Klimafonds: Rein wahltaktisch wäre es vielleicht besser, hier nicht mit den Grünen zusammenzuarbeiten, aber es geht uns um die Sache, um eine gute Klimapolitik.

 

Als Co-Präsidentin mussten Sie durch die Medien erfahren, dass Regierungsrat Mario Fehr aus der SP austrat: ein Tiefpunkt mit Ansage?

J.F.: Darf ich da zuerst etwas sagen: Ich finde, Priska und Andreas haben diese schwierige Situation hervorragend gemeistert. Besser hätte man es nicht machen können. Sie waren ständig im Gespräch mit Mario Fehr, sie hielten alle Optionen offen. Letztlich war es seine Entscheidung, und als er sie getroffen hatte, folgte eine Trennung in Anstand.

P.S.G.: Dass wir nicht vorab informiert waren, wann er die Trennung verkünden würde, hat uns natürlich nicht glücklich gemacht, doch es sagt mehr aus über Mario Fehr als über uns. Klar ist: Wenn es irgendwann einfach nicht mehr geht, dann muss man sich trennen, das ist ehrlicher.

 

Es ‹menschelt› bekanntlich nicht nur innerhalb der Partei: Wie haben Sie, Frau Fehr, es eigentlich geschafft, die ganze SVP-Kantonsratsfraktion derart unisono gegen sich aufzubringen?

J.F.: Habe ich das? Ich behaupte das Gegenteil. Ich arbeite sowohl mit dem Präsidenten der Kommission für Staat und Gemeinden, Stefan Schmid, wie auch dem SVP-Fraktionspräsidenten Martin Hübscher und den vielen SVP-Gemeindepräsidenten, die beim Projekt Gemeinden 2030 mitmachen, sehr gut zusammen. Die SVP-Denkweise kenne ich gut von Menschen in meiner Familie, die aus dem bäuerlich-gewerblichen Umfeld stammen. Klar, es gibt einzelne Exponenten, die ein Problem haben mit mir – das ist jedoch mehr deren Problem als meines, und zudem sind diese Exponenten keine tragenden Figuren der SVP.

 

Sie, Frau Seiler Graf, kämpfen weiter gegen den F-35: Das dürfte ihre Wahlchancen zurzeit nicht gerade befördern …

P.S.G. Gerade der schreckliche Krieg in der Ukraine zeigt, dass man mit Kampffliegern ein Land nicht verteidigen kann. Das Geld ist verteidigungspolitisch falsch investiert. Zudem ist es nicht statthaft, dass Bundesrätin Viola Amherd die momentane politische Lage für ihre innenpolitischen Zwecke missbraucht. Sie kritisiert die Bürgerinnen und Bürger, die ihre demokratischen Rechte wahrnehmen. Das ist vor dem Hintergrund des Angriffs auf die Demokratie in der Ukraine mehr als irritierend.

 

Stand jetzt sieht es so aus, als ob alle Regierungsratsmitglieder wieder antreten würden: Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein?

J.F.: Die Regierungswahlen im Kanton Zürich waren immer wieder für eine Überraschung gut. Priska Seiler Graf ist die perfekte Kandidatin: Sie steht für eine fortschrittliche Agglomerationspolitik, ist standhaft und weiss aus ihrer langjährigen Exekutiverfahrung, wie man in einem bürgerlichen Umfeld gute Kompromisse schmiedet. 

P.S.G.: Ich möchte sehr gern Regierungsrätin werden und werde im Wahlkampf alles geben. Und wer nichts wagt, hat bereits verloren. 

 

Was haben wir davon, wenn wir Sie wieder bzw. neu in den Regierungsrat wählen?

J.F.: Mehr Sozialdemokratie gleich mehr Fortschritt – in der Familienpolitik, im Klimaschutz oder bei der Digitalisierung. Ich setze mich dafür ein, dass sich der Kanton Zürich als führende Stimme für eine engere Zusammenarbeit mit der EU einsetzt. Und ich gestalte die Entwicklungen in meiner Direktion weiter – in der Integration, der Gleichstellung, der Kulturpolitik und im Justizvollzug. 

P.S.G.: Ich stehe für mehr Fortschritt, aber auch dafür, dass wir in den Fortschritt investieren, statt nur die Steuern zu senken. Wir haben aktuell einen erfreulichen Überschuss und sollten etwas Gescheites damit machen. Die SP ist die Partei, die wie keine andere Partei dafür einsteht, dass die staatlichen Institutionen reibungslos und zuverlässig funktionieren.

Wie immens wichtig das ist, zeigt sich gerade in Krisenzeiten. Darum ist es mir ein grosses Anliegen, dass wir mit dem erfreulichen Überschuss, den der Kanton Zürich im letzten Jahr erzielt hat, etwas Gescheites machen.Es braucht weitere Investitionen in die Bildung. Zudem sollte sich der Kanton Zürich mit Verve beim Bund für einen Verbleib bei Horizon einsetzen. Da spüre ich kein grosses Engagement von Seiten Bildungsdirektorin. Aber auch in die Energiewende investiertes Geld ist am richtigen Ort eingesetzt.

 

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