- Kultur
Im Traum
Zivilpersonen, die sich vor zehn Jahren erdreisteten, den Geflüchteten am Bahnhof Budapest zu Hilfe zu eilen, mussten peinlich darauf achten, nicht erwischt zu werden und selbst hinter Gittern zu landen. Die Förderwürdigkeit von Kunst und Kultur wird seither verstärkt und nicht nur in Ungarn daran gemessen, wie sehr sie einer allgemeinen Erbauung des Nationalstolzes dient. Seit zwanzig Jahren lehnt sich die ungarische Tanzcompany «Hodworks» mit Geschick und Verve über den Umweg der Poesie dagegen auf, mal krass, mal lieblich. «Amber», das bereits fünfte im Rahmen von «Yeah!Yeah!Yeah!» nach Zürich eingeladene Stück, wählt die Schlichtheit eines Akts der menschlichen Umarmung von jeweils zwei Personen, um darüber einen riesigen Bogen zu schlagen, der in seiner enormen Vielgestaltigkeit des Ausdrucks symbolhaft alles umfasst ausser einer sich selbst vergewissernden Beruhigtheit. Aus einer gestrengen Zensurperspektive hingegen passiert während den neunzig Minuten einer sehr gemächlich fliessenden, kontinuierlichen Veränderung der körperlichen Annäherung innerhalb der drei Paarungen auf der Bühne eigentlich nichts. Ihre Augen sind verschlossen. Die zaghafte Vorsicht ihrer Erstannäherung geschieht wie alles je individuell und kann genauso Scham wie Furcht meinen. Von einer anfänglich zarten Zurückhaltung beim Ertasten des Partner:innenkörpers als filigranes Ausloten einer Balance zwischen dem eigenem Begehren und dem Wohlbefinden des Gegenübers ausgehend, entwickeln sich drei völlig verschiedene je in sich geschlossene Vereinbarungen. Das kann in latent erotische Erkundungen, in ein schutzsuchendes Verschmelzen oder männliche Kraftmeierei führen. Sowie natürlich sämtliche Nuancen dazwischen. Also Anflüge von Übervorteilung, Lastübertragung, Neckerei und einfach stillem Genuss der Kraft der physischen Umarmung zeigen. Jede einzelne Regung bleibt nie für lange statisch, ist in sich immer empathisch nachfühlbar und führt dadurch über den reinen Akt hinaus in grossartig weit offene Möglichkeiten einer Interpretation. Simpel: Das allzumenschliche Bedürfnis nach Zugewandtheit, dem in blindem Vertrauen nachgelebt wird. Komplexer: Das Austarieren der Deutung der wiederum körperlichen Reaktion des Gegenübers darauf. Noch weiter ausgeholt: Auch ein Hilferuf. Weil wir drauf starren und über das instinktgetriebene Verhalten von Tieren im Zoo verwundert oder amüsiert reagieren, es aber in jedem Fall auch nur dabei belassen wollen. Augen auf und der Zauber verfliegt.
«Amber», 24.1., Fabriktheater, Zürich.