Im Tandem den Wagen aus dem Sumpf gezogen

Die scheidenden Co-Präsident:innen der SP Kanton Zürich, Andreas Daurù und Priska Seiler Graf, blicken auf sieben turbulente Jahre zurück. Im Gespräch mit Tim Haag reflektieren sie Höhen, Tiefen und die Bedeutung guter Teamarbeit.

Nach sieben Jahren als Doppelspitze der SP Kanton Zürich geben Sie per 1. Juni ihr Amt ab. In einem Wort: Wie fühlen Sie sich?

Andreas Daurù: Vielleicht weiser? Nein, das klingt überheblich…

Priska Seiler Graf: Gereift?

A. D.: Ja, doch, das bringt es auf den Punkt. Gereift. Wir haben in den letzten sieben Jahren wahnsinnig viel gelernt, besonders im zwischenmenschlichen Bereich, aber auch in der politischen Arbeit.

P. S. G.: Ich glaube, mein Wort wäre «ambivalent». Auf der einen Seite bin ich froh, dass der 1. Juni irgendwann mal kommt, auf der anderen Seite ist bei uns schon eine grosse Wehmut da, weil Andi und ich das Präsidium sehr gerne gemacht haben. Es ist eigentlich eine siebenjährige Weiterbildung, die jetzt zu Ende geht, mit Fokus auf Mediationsarbeit.

Mediationsarbeit?

A. D.: Ein grosser Teil der Arbeit bestand darin, die verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei zu moderieren und zusammenzuhalten, als Brückenbauer zwischen professioneller und politischer Arbeit zu fungieren. Die SP ist eine vielfältige Partei, und es ist wichtig, diese Vielfalt – jung und alt, Stadt und Land – zu koordinieren. Dazu gehört auch, die Mitglieder zu motivieren und aktiv einzubinden.  Mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass ihr Einsatz wirklich etwas bewirken kann.

P. S. G.: Gerade im letzten Wahlkampf hat das sehr gut funktioniert. Wir verlangen viel von unseren Mitgliedern – aber das können wir auch, weil wir wissen, dass wir die besten und aktivsten Mitglieder der Parteienlandschaft haben. 

Neben der Innenwirkung hat man als Präsidium der Partei auch die Verantwortung, die Partei gegen aussen zu repräsentieren. Wie war das für Sie?

P. S. G.: Anfangs schon etwas einschüchternd. Gegen aussen waren Andi und ich das Gesicht der SP Kanton Zürich, und was wir den Medien gesagt haben, war nicht mehr einfach unsere Meinung, sondern die Meinung der Partei. Aber in diese Rolle wächst man hinein – zumindest wir, weil wir uns so stark mit der Partei identifizieren. 

Es gab aber sicher auch Momente, in denen Sie das Gesicht einer Parteimeinung waren, hinter der sie nicht zu hundert Prozent standen. 

P. S. G.: Es kann einmal vorkommen, dass man in einem Bereich etwas anders sieht. Wenn das jedoch jedes Mal passiert, muss man sich überlegen, ob man Präsident:in der richtigen Partei ist. In den allermeisten Fällen ist völlig klar, was die Haltung der SP ist. Aber es gibt immer wieder Themen, bei denen der Meinungsfächer innerhalb der Partei auseinandergeht. Da muss man als Präsidentin oder Präsident versuchen, diese verschiedenen Haltungen darzustellen, anstatt nur die eigene Meinung zu vertreten. 

A. D.: Und wenn es einmal schnell gehen muss, zum Beispiel, wenn die Medien eine rasche Antwort fordern, dann ist halt – salopp gesagt – die eigene Meinung die Parteimeinung. Man überlegt sich, wo die grossen gemeinsamen Nenner der Partei liegen und gibt diese wieder. Grundsätzlich hatten wir damit keine Probleme. Schwierig wird es eher, wenn es um Personalien geht – da gehen die Meinungen innerhalb der Partei natürlich weit auseinander…

Ohne jetzt Namen zu nennen?

A. D.: Ohne Namen zu nennen.

Externer Druck, interne Mediationen – das tönt nicht nach sonderlich viel Spass.

A. D.: Es gab natürlich immer Situationen, in denen ich das auch manchmal verflucht habe, bspw. an einem   Sonntagnachmittag, wenn wieder ein  Berg voll Aufgaben vor einem lag. Aber grundsätzlich möchte ich die sieben Jahre nicht missen. Ich fand es sehr erfüllend, mitbestimmen zu können und auch ein Stück weit mit Priska die Richtung vorzugeben.

P. S. G.: Mir ging es genauso. Solange man so für die Partei brennt wie wir und sie als Ganzes weiterbringen will, macht die Arbeit Spass.

Apropos brennen: Sie haben vorhin gesagt, man müsse sich, wenn man sich mit vielen Standpunkten der Partei nicht mehr identifizieren könne, Gedanken machen, ob man Präsident:in der richtigen Partei sei. Ihr Vorgänger, Daniel Frei, hat mittlerweile die Partei verlassen, genauso wie Ex-Regierungsrat Mario Fehr, der sich vor Ihrem Amtsantritt mit der Juso verstritten hatte. Was hat Sie dazu gebracht, sich in so einer so turbulenten Phase für das Präsidium zu melden?

 P. S. G.: Wir haben uns ja nicht einfach nur gemeldet, sondern wir waren Mitglieder der Findungskommission, die ein neues Präsidium suchen sollte.

A. D.: Und du warst die Präsidentin der Kommission.

P. S. G.: Genau. Und irgendwann hat es sich einfach herauskristallisiert. Ich kann mich erinnern, wie ich auf dem Weg zum Bahnhof zu Andi gesagt habe: «Du, ich glaube, es läuft auf uns beide hinaus». Was uns dazu bewogen hat, das Amt zu übernehmen, war schlicht die Liebe zur SP.  Wir wollten helfen, den Wagen wieder aus dem Sumpf zu ziehen.

Und dann hat die Findungskommission, bestehend aus Ihnen beiden, befunden, dass Sie beide die einzigen Fähigen für den Job sind?

P. S. G.: Nicht die einzigen, aber die einzigen, die gewillt waren, den Job zu machen. In der Regel stehen die Leute nicht Schlange fürs Parteipräsidium.

Wieso nicht?

P. S. G.: Balthasar Glättli hat die Rolle vor Kurzem mit einem Laternenpfahl verglichen: Oben muss man leuchten, unten wird man angepinkelt. So extrem ist es bei uns natürlich nicht, aber man ist schon exponiert. Gerade in der Mario-Fehr-Krise, die Sie angesprochen haben, war meiner Meinung nach zum Beispiel auch die Medienberichterstattung überhaupt nicht fair. Und entweder man erträgt das, oder man erträgt es nicht. Am nächsten gegangen ist mir immer die Kritik aus den eigenen Reihen, das geht nicht spurlos an einem vorbei.

A. D.: Ich hatte im Gegensatz zu Priska den Vorteil, dass ich als Vizepräsident nach Dani Freis überraschendem Rücktritt drei Monate unfreiwillig schnuppern durfte. Im ersten Moment hat mich das ziemlich überfordert und ich wollte so schnell wie möglich eine:n Nachfolger:in finden, aber mit der Zeit habe ich eine Faszination für das Amt gefunden und für die Herausforderung, die SP wieder in ruhigere Gewässer zu führen. 

Wie wichtig war es, dass Sie bei dieser Aufgabe zu zweit waren?

A. D.: Essenziell. Ich bin ein grosser Fan des Co-Präsidiumssystems, und die Zusammenarbeit mit Priska war genial. Alleine hätte ich es wohl nicht geschafft, besonders, als sich der Konflikt mit Mario Fehr verhärtete. Du hast jemanden, mit dem du dich abstimmen sowie  Freud und Leid teilen kannst. Zwei Leute bringen unterschiedliche Sichtweisen und ergänzen sich. Das bisschen mehr Zeit  für die Koordination  ist absolut vernachlässigbar im Vergleich zum Ergebnis.

P. S. G.: In  schwierigen Phasen  war es entscheidend, dass wir mehrmals am Tag telefonieren und uns absprechen, unsere Meinungen spiegeln konnten. Ich finde das Co-Präsidium ein super Konzept, aber es muss zwischen den Co-Präsident:innen auch funktionieren. Bei uns hat es immer sehr gut geklappt. Wir hatten auch nie Streit oder kaum unterschiedliche Haltungen – oder?

A. D.: Nein, und wenn, dann waren es Nuancen.

Was braucht es ausser einem/einer guten Partner:in noch, um ein:e gute:r Parteipräsident:in zu sein?

A. D.: In dieser turbulenten Zeit war die Unterstützung des Generalsekretariats enorm wichtig. Wir konnten uns mit den Kommunikationsfachleuten auf dem Seki abstimmen und sicherstellen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Uns war es wichtig, die Mitglieder mitzunehmen, besonders in Krisenzeiten – das heisst Newsletter verschicken, direkt kommunizieren, die Mitglieder auf dem Laufenden halten, welche Ideen wir verfolgen und an welchen Lösungen wir arbeiten.

P. S. G.: Das Präsidium, das Seki und die Mitglieder haben alle am gleichen Strang gezogen – das schweisst zusammen. 

Wir haben von den – mit Chantal Galladé – drei prominenten Abgängen in Ihrer Amtszeit gesprochen, ein vierter ist noch bei der Partei…

P. S. G.: Der bleibt auch.

…auf der anderen Seite ist die SP Kanton Zürich in Ihrer Amtszeit von 5000 auf über 6500 Mitglieder angewachsen. Was haben Sie richtig gemacht?

P. S. G.: Unser Ziel war es, die SP Kanton Bern zu überholen, und das haben wir auch geschafft  

A. D.: Ich glaube, es wäre übertrieben, den Erfolg an uns festzumachen. Wir haben vielleicht, wie vorher besprochen, schwierige Zeiten durchgestanden und dabei ein gutes Bild abgegeben, aber es gibt viele Faktoren, die dazu führen, dass jemand Mitglied wird. Die SP Schweiz performt derzeit gut, und davon profitieren wir natürlich auch. Und die Arbeit von bekannten Exponent:innen wie zum Beispiel im Ständerat trägt ebenfalls zum positiven Image bei.

Genug der schwierigen Zeiten: Was waren die Highlights Ihrer Amtszeit?

P. S. G.: Das letzte Wahljahr natürlich. Wir haben uns vorgenommen, auf einem Höhepunkt aufzuhören, und dieser Moment ist jetzt da. Bei den Kantonsratswahlen hat sich die Wende abgezeichnet, obwohl alle prophezeit hatten, dass wir wieder verlieren würden. Der ‹Tages-Anzeiger› hatte schon eine Schlagzeile vorbereitet, doch wir haben einen Sitz gewonnen. Für mich war es zwar ein Wermutstropfen, dass ich es nicht in den Regierungsrat geschafft habe, aber insgesamt war das ein Wendepunkt. Das Aufatmen aus Bern hat man bis nach Zürich gehört. Die SP hat bei den Wahlen gut abgeschnitten, besonders national, und als Kantonalpartei haben wir mit 3,8 Prozent am meisten zugelegt im Vergleich mit den anderen Parteien. Das hat uns gutgetan.

A. D.: Ein weiteres Highlight für mich war die Zusammenarbeit mit dir, Priska, und mit dem Sekretariat. Die Hand-in-Hand-Arbeit war für mich sehr prägend und setzt hohe Erwartungen für die Zukunft, sei es beruflich oder anderswo. 

P. S. G.: Das tönt jetzt etwas kitschig, aber ich bin noch in anderen Ämtern in Co-Präsidien und muss sagen, nirgends ist es so wie mit Andi. Von Anfang an hat es einfach gestimmt. Und am Ende – jetzt fange ich dann gleich an zu weinen – sind es ja die Menschen, die den Unterschied machen. Nicht mehr so intensiv mit diesen Menschen zusammenzuarbeiten, die ich so schätzen gelernt habe, damit werde ich in den nächsten Wochen sicherlich noch zu kämpfen haben.

Trotz der guten Teamarbeit ist jetzt, nach sieben Jahren, fertig lustig. Wieso?

P. S. G.: Man kann den Job ja auch nicht ewig machen. Es ist schön, dass die Leute bedauern, dass wir gehen, aber wir wollten aufhören, bevor wir völlig ausgelaugt sind. Für die Partei ist es gut, wenn es ab und zu einen Wechsel gibt. Wenn man schaut, wie lange andere Präsidien bleiben, sind sieben Jahre eine lange Zeit. Der Moment ist jetzt gut, weil wir nicht mitten in einem Wahlkampf stecken. 

A. D.: Gewisse Ermüdungserscheinungen merkt man schon. Es ist besser, jetzt aufzuhören, bevor wir nicht mehr die volle Kraft für die nächsten Wahlkämpfe aufbringen können. Und zu wissen, wer uns voraussichtlich beerben wird, stimmt uns sehr positiv.

Michèle Dünki-Bättig und Jean-Daniel Strub werden Ihre Nachfolge antreten. Welchen Rat geben Sie ihnen mit auf den Weg?

P. S. G.: Höchstens, dass wir hier sind, wenn sie Unterstützung brauchen. Ich denke, Michèle und Jean-Daniel haben keine anderen Ratschläge nötig. Sie wissen, worauf sie sich einlassen, und ich bin der vollen Überzeugung, dass die Herausforderungen, die auf sie zukommen, packen werden.

Welche konkreten Herausforderungen kommen denn auf sie zu?

A. D.: Ich glaube, soziale Fragestellungen werden extrem wichtig sein, besonders in schwierigen Zeiten weltweit, die natürlich auch Auswirkungen auf den Kanton Zürich haben. Der Zusammenhalt der Gesellschaft, der soziale Ausgleich und die soziale Sicherung spielen eine sehr wichtige Rolle. Das heisst, die SP wird eine grosse Verantwortung tragen. 

P. S. G.: Innerhalb der Partei gehe ich von einem ruhigen Fahrwasser aus. Aber nach aussen hin wird die Partei wichtiger denn je sein.

Ab dem 1. Juni sind Sie beide nicht mehr Parteischiedsrichter und -Mediatorin. Was machen Sie mit der ganzen freien Zeit?

P. S. G.: Irgendwie hat man ja die Illusion, dass man dann auch wirklich mehr Zeit habe: Keine Abstimmungswochenenden im Medienzentrum mehr, die freien Dienstagabende… Aber ich kenne mich – wahrscheinlich wird die freie Zeit schnell wieder woanders aufgefressen. Und natürlich bleibt die SP Kanton Zürich immer Bestandteil meines politischen Lebens.

A. D.: Ich habe mir ganz konkret vorgenommen, Dinge zu machen, die bisher zu kurz gekommen sind, wie Biken. Ich habe sogar überlegt, wieder Musik zu machen – ich habe lange E-Gitarre gespielt. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass ich weiterhin im Kantonsrat und jetzt auch als Kommissionspräsident aktiv bin. Vielleicht wird, wie bei Priska, die freie Zeit eher in diese Tätigkeiten fliessen.