Im Spagat zwischen libertär und solidarisch

 

An der Tagung zur Migrationscharta von morgen Samstag in Bern referiert unter anderen Gianni d’Amato, Professor für Migrations- und Bevölkerungsstudien an der Uni Neuchâtel. Was er von der Idee der «freien Niederlassung für alle» hält, erklärt er im Gespräch mit Nicole Soland.

 

 

Mit dem Postulat der «freien Niederlassung für alle» findet die Tagung zur Migrationscharta (siehe Kasten) zum schlechtestmöglichen Zeitpunkt statt – oder täuscht der Eindruck?

Gianni D’Amato: Der Zeitpunkt, um über eine umfassende Niederlassungsfreiheit zu reden, ist eigentlich immer schlecht (lacht). Doch aktuell ist er tatsächlich noch schlechter, denn die Ereignisse von Köln und anderen Städten sind noch sehr präsent und führen uns direkt zum Kernpunkt des Themas.

 

Der da wäre?

Über die freie Niederlassung für alle lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln mehr oder weniger theoretisch debattieren, aber am Schluss haben wir es stets mit Menschen zu tun – und Menschen verhalten sich nun mal nicht immer so, wie es theoretisch am besten wäre, beziehungsweise wie wir es gern hätten. Dies führt uns zur Frage, was die Verbindlichkeiten unserer Gesellschaft sind.

 

Die Migrationscharta hat die unabhängige Gruppe «KircheNordSüdUntenLinks» im August 2015 verfasst mit dem Ziel, Grundsätze einer neuen Migrationspolitik aus biblisch-theologischer Perspektive zu formulieren. Was halten Sie davon?

In der Charta wird die Idee, dass sich jede und jeder frei bewegen können soll, damit begründet, dass die Welt allen gehöre und dass unter diesem Grundsatz der Gleichheit niemandem verwehrt werden kann, zu wandern. Nationalstaaten werden in dieser Sichtweise problematisiert. Allerdings ist die Befindlichkeit innerhalb einer Gesellschaft aber ebenso ein Thema wie die Solidarität mit jenen, die von aussen kommen, und es wird auch vorausgesetzt, dass es ein gewisses Verständnis für Regeln und Prinzipien des Zusammenlebens braucht.

 

Ist das widersprüchlich, oder tönt es bloss so?

Es ist auf jeden Fall eine weniger radikale Haltung als jene, welche die Libertären vertreten.

 

Auch bei den Libertären gibt es nicht nur eine Sicht der Dinge…

Die libertäre Vorstellung der freien Niederlassung, von der ich ausgehe, gesteht jedem Individuum zu, autonom über seine Mitgliedschaft zu entscheiden und sich dort niederzulassen, wo es will. Sie baut auf die Autonomie der Menschen und darauf, dass sie sich unabhängig vom Staat zurechtfinden. Umgekehrt pflegen die Menschen, die sich an den libertären Vorstellungen orientieren, die Toleranz und akzeptieren, dass die Menschen verschieden sind. Ihnen reicht ein minimaler Sozialstaat, der nichts oder nur wenig kosten darf, damit jeder kommen und bleiben kann, wie es ihm beliebt.

Diese Gesellschaft kennt auch keine bevorzugte Gruppe – wie etwa «die Einheimischen» oder «die SchweizerInnen» –, sondern geht davon aus, dass das Land, das Territorium nicht nur einer Gruppe gehören darf. Unter realen Bedingungen fördert diese Sichtweise insbesondere jene, die keinen Schutz brauchen. Die Libertären sind somit dem Sozialdarwinismus nicht abgeneigt.

 

Sie jedoch würden letzteres nicht unterschreiben?

Nein, mir ist wie den Unterzeichnern der Migrationscharta eine Bürgergesellschaft wichtig, die sich solidarisch gegenüber Entrechteten zeigt, gegenüber jenen, die anderswo auf der Welt politisch drangsaliert werden, gegenüber Menschen, die im Krieg leben müssen. Dass wir diese Menschen mit offenen Armen empfangen, ist für mich selbstverständlich. Politik muss regeln, aber nie gegen Einzelne gerichtet sein, die in Not sind.

 

Das sehen, glaubt man aktuellen Umfragen aus Deutschland, immer mehr Menschen in Europa anders.

Die ethnonationale Vorstellung einer auf Blutsverwandtschaft beruhenden Gesellschaft existiert nach wie vor: Ich meine die Vorstellung einer Gesellschaft, die angeblich aufgrund ihrer Homogenität die besten Voraussetzungen bietet, um sich zu einigen, weil ihr nur Menschen derselben Abstammung, derselben ‹Ethnie› angehören. Weiterführende menschenrechtliche Rechtsprinzipien werden gemäss dieser Vorstellung überflüssig. Das ist natürlich eine Behauptung, die manipulativ interpretierbar ist, aber nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Dort, wo sie sich durchsetzt, wird sie unterminiert, wenn es plötzlich möglich sein soll, sich nach eigenem Gutdünken hier, dort oder anderswo niederzulassen. Ebenfalls Mühe mit der Niederlassungsfreiheit haben jene, welche die Assimilation für die beste Methode halten: Sie sagen, «ihr könnt zu uns kommen, aber nur, wenn ihr nach unseren Regeln lebt.» Die Vorstellungen, welche die Alteingesessenen von ihrer Republik haben, sollen also ohne Diskussion auch für die Neuen gelten. Damit diese sich wie gewünscht assimilieren können, müssen sie gewissermassen eine zweite Sozialisation durchmachen.

 

Dass Menschen einfach friedlich miteinander leben und sowohl Alteingesessene wie Neue gemeinsam die Regeln machen können, scheint hingegen eine Utopie zu bleiben.

Die Koexistenz ist nichtsdestotrotz mein Favorit. Dabei haben diejenigen, die über längere Zeit vor allem wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell zu einer wohlgeordneten Gesellschaft beigetragen haben, ein Recht auf Integration und Teilhabe. Dazu braucht es Menschen, die fähig sind, zusammen zu leben und zu arbeiten, unabhängig davon, wer welchen Pass hat. Aus diesem Miteinander ergäbe sich die Richtung, in der sie sich gemeinsam weiterentwickeln könnten: Integration durch Teilhabe also. Die PromotorInnen der Tagung äussern sich hierzu eher defensiv …

 

Was meinen Sie damit?

In der Charta wird, verständlicherweise angesichts des christlichen Hintergrunds, der Grundsatz betont, dass man Menschen nicht qualifizieren und die Pluralität anerkennen soll. Im Zusammenleben mit MigrantInnen soll der «Grundsatz der Gleichheit aller Menschen» zur Geltung kommen. Mit dem Recht auf freie Niederlassung wird in der Charta aber auch die Pflicht verbunden, «die vielfältige Identität der Menschen und Gemeinwesen anzuerkennen und zu respektieren, bei und in denen sie sich niederlassen.» Folgerichtig postuliert die Charta Schutzbestimmungen für bestimmte verletzliche ansässige Bevölkerungsgruppen, «etwa beim Zugang zum Arbeitsmarkt, bei Löhnen und Arbeitsbedingungen oder beim Grundeigentum.» Hier wird das Recht auf freie Niederlassung zumindest ‹eingerahmt›, wie es zur helvetischen Tradition gehört.

 

Aber immerhin nicht nach reinem «Recht des Stärkeren»…

Stimmt, aber Migration wird in der Charta mitunter auch als Bürde wahrgenommen. Es sind nur Menschen im Fokus, die aus Unterdrückung und Krieg flüchten, und wie gesagt: Diese sollten wir mit offenen Armen empfangen. Doch es gibt auch Migration aus anderen Gründen: Die Bewegungsfreiheit innerhalb des Schengen-Raums ist schon ein Beispiel für dieses Recht, und es wird rege genutzt, aber sie beschränkt sich auf jene Menschen, die dafür den ‹richtigen› Pass, teilweise auch die ‹richtige› Hautfarbe haben. Trotzdem haben die SchweizerInnen ihre liebe Mühe damit. Auch die seit längerem existierende Freizügigkeit zwischen Australien und Neuseeland, jene innerhalb der skandinavischen Länder oder zwischen England und Irland sind Beispiele dafür, dass die freie Niederlassung durchaus nichts Neues ist – doch die freie Niederlassung weltweit gab es noch nie.

 

Ist das ein Grund, dagegen zu sein?

Eher einer, genau hinzuschauen: Das Recht auf Migration wird zumindest gegenwärtig noch staatlich reguliert, aber als Angela Merkel ein europäisches Problem löste, indem sie sagte, «wir schaffen das», veranlasste diese Aussage wahrscheinlich noch mehr Flüchtlinge, aus den Kriegsgebieten nach Europa zu ziehen. Unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten konnten Deutschland, aber auch Schweden ja nicht anders, als die Menschen aufzunehmen. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die gesellschaftlichen Reaktionen in verschiedenen europäischen Staaten wegen der Wanderung der Flüchtlinge höchst spannungsreich sind. Das sind politische Realitäten, die wir ernst nehmen und überzeugende Antworten suchen müssen. Theoretisch interessant zu überlegen wäre allerdings, wie wir die freie Niederlassung trotzdem realisieren könnten.

 

Und?

Wenn wir wie die Promotoren davon ausgehen, dass wir nur aus der Hoffnungsperspektive heraus aktiv sein können, pflegen wir erst mal eine Willkommenskultur und halten das Asylrecht hoch. Weil aber Menschen wie gesagt nicht immer das machen, was man gerne hätte – einige Ansässige wollen niemanden willkommen heissen, einige MigrantInnen wollen sich nicht an hiesige Regeln halten –, müssen wir längerfristige Perspektiven eröffnen und weiterhin über die Formen des Zusammenlebens streiten, aber auch darüber, was die Integration einer Gesellschaft bedeutet, wenn sie in kurzer Zeit viele Flüchtlinge aufnimmt, wie dies in Deutschland und Schweden, aber auch anderswo der Fall ist. Wir kommen nicht umhin, politisch um den Begriff der Integration zu ringen und diese auch zu finanzieren.

 

Dass die Ansässigen dabei am längeren Hebel sind, versteht sich von selbst?

Ja, aber auch die Ansässigen sind auf einen Konsens angewiesen – und im übrigen ist es häufig so, dass die Neuen hinten anstehen. Es gilt, so früh wie möglich allen eine Stimme zu geben und vor allem eine Chance, sich am Arbeitsleben und in der Öffentlichkeit zu beteiligen.

 

Was ist mit denen, die sich nicht an die Regeln halten?

Sie nähren die Kultur des Verdachts, dass eine gemeinsame Perspektive sich nicht lohnt. Doch es sind normalerweise nur wenige, und um mit ihnen zurande zu kommen, reicht das Strafrecht wo nötig aus. Die Debatte, wer unter diesen Umständen ‹zu uns› gehören soll und wer nicht, ist natürlich trotzdem zu führen. Darüber entscheiden können wir nur im Einzelfall. Umgekehrt gilt auch die grundsätzliche Überlegung, dass wir mit jemandem, der vor kurzem gekommen ist und unsere Regeln überhaupt nicht akzeptieren will, nicht zusammenleben können.

 

Gäbe es die freie Niederlassung, könnten wir uns solche Überlegungen sparen.

Ein absolutes Recht auf Wanderung zu postulieren, ohne an die bestehenden Nationalstaaten zu denken und daran, dass diese Staaten ihre Souveränitätsansprüche durchsetzen werden, wenn sie nicht aufhören wollen, Staaten zu sein – das ist tatsächlich ein Knackpunkt. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass MigrantInnen Menschen sind – und als solche nicht besser oder schlechter als andere Menschen auch. MigrantIn zu sein ist keine moralische Position an sich. Unabhängig davon, ob jemand willkommen oder geduldet ist: Regeln fürs Zusammenleben gibt es überall, und sich mit überzeugter Nonchalance nicht daran zu halten, ist so oder so ein Affront. Dieses Prinzip gilt allerdings auch für Ansässige.

 

Angenommen, es gäbe die freie Niederlassung für alle: Was würde dann mit jenen Menschen geschehen, die vor Verfolgung geflüchtet sind und die im heutigen System als Flüchtlinge anerkannt werden?

Die Frage, wie man ihnen genügend Schutz gewähren, aber auch ihre Teilhabe am hiesigen Leben und ihre Integration in die Gesellschaft organisieren könnte, wie sie zu Sprachkursen, beruflicher Weiterbildung, Coaching etc., kämen, was ja zurzeit und zu Recht vom Staat finanziert wird, wäre dann offen: Setzte sich die libertäre Haltung durch, könnte es passieren, dass verlangt würde, jeder müsse sich solche Angebote selbst organisieren und sie auch selbst bezahlen. Damit könnten sich nur noch jene Flüchtlinge integrieren, die es sich leisten könnten. Ich denke allerdings, dass die Promotoren der Tagung zu Recht davon ausgehen, dass der Staat diese Leistungen aus menschenrechtlicher Verantwortung zu erbringen hat.

 

Welche Haltung nehmen Sie nun morgen ein?

Wenn es um das Recht auf Migration geht, ist die libertäre Haltung sicher jene, die am weitesten geht, sie ist enorm radikal, aber sie fordert auch Toleranz. Ich würde mich allerdings dagegen verwahren, dass nur die Stärksten überleben sollen. Der Solidaritätsgedanke und das Engagement für andere sind mir wichtig. Die freie Niederlassung hat ihren Reiz, aber die Finanzierbarkeit, die politische Legitimität und die Organisation des Zusammenlebens sind Themen, die es dafür erst zu Boden zu diskutieren gälte.

 

Wird die Durchsetzungsinitiative angenommen, erübrigt sich diese Diskussion wohl.

Die Mobilität über Grenzen hinweg, auch nur schon innerhalb Europas, hat nie ungeteilte Freude bereitet. Das zeigt ein Blick in die Geschichte: Auch in den USA waren Ende des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts protestantische Einwanderer aus Europa willkommen. Doch als dann die ‹Falschen› kamen, sprich nicht mehr nur Menschen aus Deutschland, Skandinavien oder Holland, die alle reformiert waren, sondern KatholikInnen und Juden, da gingen die Grenzen wieder zu. Was die Abstimmung vom 28. Februar betrifft, bin ich nach wie vor zuversichtlich, dass es der Mehrheit der Bevölkerung gelingen mag, den für das friedliche Zusammenleben so wichtigen Rechtsstaat zu verteidigen.

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