«Im Herbst sind Wahlen»

Mit dieser pragmatischen Aufforderung, selbstständig an der Veränderung der politischen Machtverhältnisse mitzuarbeiten, brachte die ehemalige Zürcher Stadträtin Ruth Genner (Grüne) die am simpelsten realisierbare Einflussnahme durch Interessensvertretung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transpersonen (LGBT+) auf den Punkt. Als sie 1998 im Nationalrat mit einer parlamentarischen Initiative die ‹Ehe für alle› forderte, war das neue Eherecht, das nicht mehr sämtliche Befugnis auf dem Mann als alleinigem Familienoberhaupt versammelte, erst zehn Jahre in Kraft. «Materiell hatte das keine Chance, das wusste ich selber», sagte sie in ihrer Ansprache an der diesjährigen Pride (vormals Christopher Street Day, Bilder Seite 18/19), «aber inhaltlich und gesetzestechnisch war und ist die ‹Ehe für alle› der am einfachsten realisierbare Weg für rechtliche Sicherheit». Ähnlich wie die Pride-Präsidentin Lea Herzig auf dem Helvetiaplatz die noch vom Frauenstreik vom Vortag in den Fenstern des Amtshauses Helvetiaplatz hängende Buchstabenfolge «LIEBER GLEICH BERECHTIGT ALS SPÄTER» für die Anliegen der LGBT+-Community mitanwandte und die ganze Gesellschaft ins Visier nahm, äusserte sich auch Ruth Genner: «Der gesellschaftliche Wandel beginnt im Alltag». Und fuhr mit der einleuchtenden Feststellung fort, dass es «keine eigene Rechtskategorie für jede Minderheit braucht, sondern gleiches Recht für alle».

 

Wie viel Geduld und Hartnäckigkeit diese an sich simple Weisheit von den BefürworterInnen, KämpferInnen und PionierInnen abverlangt, zeigt die Geschichte der Frauenemanzipation, deren Ziele noch immer nicht realisiert sind. Alecs Recher vom Transgender Network Schweiz (TGNS) findet dafür die treffliche Formulierung: «Gesellschaftlicher Wandel ist kein passiver Prozess.» Dass erst Anfang Woche der Schweizerische Katholische Frauenbund seine Zustimmung zur ‹Ehe für alle› verkündet hat, lässt die Hoffnung auf ein gesamtgesellschaftliches Ja berechtigt wirken. Schon beim Partnerschaftsgesetz setzte sich die über 300 000 Mitglieder starke Organisation für ein Ja ein, die überwältigende Zustimmung an der Urne in der Folge schrieb Geschichte.

 

Indirekt ist dieser Erfolg auch den GegnerInnen von EDU und Konsorten zu verdanken, die mit ihrem Referendum die breitenwirksame Diskussion, das sich Zusammenraufen sämtlicher progressiver Kräfte und zuletzt auch die Mobilisierung der Stimmberechtigten erst nötig machten. Es ist wieder derselbe Kreis von Absendern, der gegen die Ausweitung der Antirassismus-Strafnorm das Referendum ergriffen hat und damit bei voraussichtlich nicht wenigen einen regelrechten pawlowschen Reflex auslöst: Bei dem Absender immer Nein stimmen. Wie wahnsinnig wichtig das Strafgesetz für eine allgemeingültig getragene und umfassende Anerkennung und Durchsetzung der Gleichberechtigung aller sein soll, ist eine gänzlich andere Frage. Arschlöcher, auch gewaltbereite, sterben nie aus und eine über das bereits heute bestehende Strafmass für Körperverletzung hinausgehende Massnahme wird in ihrer reellen Wirkung auf potenziell Tatbereite tendenziell überschätzt. Auf der Rechtsseite hingegen nach wie vor stossend ist der Umgang mit sexueller Identität und/oder Ausrichtung im Zusammenhang mit Flucht und Asyl, also der Verweigerung ihrer Anerkennung als Fluchtgrund. Hier einen Nagel einzuschlagen hätte weitaus konkretere Folgen für eine Vielzahl von Menschen als das Verbot einer verbalen Herabwürdigung von anderen. Dem gegenüber sehr erfreulich ist die Tatsache, dass in vierzehn Kantonen politische Vorstösse eingereicht wurden, die sogenannten ‹Hate Crimes›, also gewalttätige Übergriffe auf LGBT+-Personen statistisch als Straftatbestand gesondert aufzunehmen und dafür die versammelte Kette der dafür verantwortlichen Behörden von der Polizei bis in die Justiz weiterzubilden und zu sensibilisieren.

 

Veränderung in den Köpfen braucht Zeit – und dort muss die Gleichstellung ankommen: im Bewusstsein. Homosexualität wurde erst 1992 von der Liste der pathologisierten Störungen der Weltgesundheitsorganisation gestrichen, gleiches geschah vor einem Monat endlich auch mit der Geschlechter­identität/Transition. Das stellt für Transpersonen mittelfristig auch eine rein geldwerte positive Entwicklung in Aussicht. Nachdem seit 2018 die Zwangssterilisation vor einer Transition verboten worden war, muss das gesamte Gesundheitssystem während der Übergangszeit von drei Jahren konkrete Veränderungen einleiten, die bis zur Übernahme der Transition in den Leistungskatalog der Grundversicherung der Krankenkassen führt. Die Freude darüber war der TGNS-Präsidentin Stefanie Hetjens genauso sichtlich ins Gesicht geschrieben wie ihr Ärger darüber, dass sie sich im Alltag in diversen Situationen immer wieder outen und ihr Dasein berichtigen müsse: «Ich will keine Frau sein, ich werde nicht zur Frau, ich bin eine Frau!» rief sie einem Stossgebet nicht unähnlich in die ihr applaudierende Masse auf dem Helvetiaplatz zu, um mit der Ausdeutschung des Pride-Mottos «Strong in Diversity» zu schliessen: «Wir sind in unserer Vielfalt alles Menschen und die gegenseitige Akzeptanz dieser Vielfalt macht uns stark.» Womit sie den Kreis zu einem früheren Slogan der Pride, «Liebe ist ein Menschenrecht», schloss.

 

Die gegenseitige Ausgrenzung innerhalb der Community, die unter dem Jahr gar nicht so zwingend gemeinsam auftritt und je nach Situation auch ganz anderen Forderungen eine prioritäre Dringlichkeit zuschreibt, kam in der Rede der Sexualforscherin Silvia Müri ziemlich deutlich zu Wort. Ihre Schlussfolgerung indes, dass sich die weissen schwulen Cis-Männer in ihrer Aussenwirkung etwas zurücknehmen sollten, scheint nicht eben die lösungsorientierteste aller Möglichkeiten. Kommt demnächst die Forderung des sexuell aktiven Teils der schwulen Männer wieder aufs Tapet, die HIV-Prophylaxe «PrEP» in ihrer Orginalrezeptur oder einem Generika, endlich legal und in einer bezahlbaren Preisordnung für jene beschaffbar zu machen, die sich mit Chemie gegen eine Ansteckung schützen wollen, ist das erstens ein berechtigtes und ernstzunehmendes Anliegen und zweitens in keiner Form eine Absage an jede Form von Unterstützung der genauso berechtigten und ernstzunehmenden Forderungen aller anderen Lebensformen unter dem Regenbogen.

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