«Ich wollte nicht nur motzen, sondern einen Beitrag leisten»

Nach 18 Jahren im Zürcher Gemeinderat nahm Christine Seidler (SP) am Mittwoch zum letzten Mal an einer Parlamentssitzung teil. Darüber, was sie in ihrer Zeit im Rat bewirken konnte, worauf sie stolz ist und was ihr nicht nach Wunsch geglückt ist, gibt sie im Gespräch mit Nicole Soland Auskunft.

 

Erinnern Sie sich noch, weshalb Sie sich ursprünglich auf die Gemeinderatsliste setzen liessen?

Christine Seidler: Daran erinnere ich mich sehr gut: Ich wollte nicht nur motzen, sondern aktiv werden und einen Beitrag leisten. Mich interessierten verschiedene Themen, ich sah viel Arbeit, die getan werden musste, und das nicht erst seit dem Frauenstreik von 1991.

 

Der Frauenstreik hat Sie politisiert?

Der Frauenstreik war ein wichtiger Tag für mich, ebenso wie der Tag der Nichtwahl von Christiane Brunner. Ich erinnere mich genau an die Demo anlässlich jener Nichtwahl: Ich stand, hochschwanger mit meiner zweiten Tochter, auf dem Bundesplatz und ärgerte mich über einen Polizisten, der mir ins Gewissen redete, weil man doch nicht so hochschwanger an eine Demo gehe … (lacht). Politisiert wurde ich aber schon viel früher, der SP beigetreten bin ich Anfang der 1990er-Jahre.

 

Dass es die SP sein musste, war von Anfang an klar?

Nebst der SP gab es die POCH, da hätte ich gut landen können, doch die POCH war damals schon fast eingegangen. Der LdU lockte mich nicht, und die Bauernpartei (heutige SVP), FDP oder auch die CVP oder CSP kamen überhaupt nicht infrage. Die Grünen wiederum waren mir damals zu konservativ und zu einseitig aufs Thema Militär fixiert. Die FraP! interessierte mich nicht, weil ich finde, Männer zu diskriminieren, löst die Genderproblematik nicht. In meiner Sektion, der SP 9, wurde ich hingegen von Barbara Grisch willkommen geheissen. Sie empfahl mir, mich für die Schulpflege zu bewerben. Ich landete auf der Liste und wurde prompt gewählt. Ich war damals ja noch jung und naiv genug, um zu glauben, dass man tatsächlich die Welt verändern kann, indem man sich politisch engagiert …

 

Was sich als nicht so einfach herausstellte?

Sagen wir es so: Damals kam es mir einfacher vor als heute. Meine Erfahrungen mit der Schulpflege waren durchaus gut, ich durfte die Reform der geleiteten Schulen mitgestalten und war Teamleiterin bei der Reform der MitarbeiterInnenbeurteilung. Weil ich mich in der Schulpflege und im Quartier stark engagierte, kam ich als Listenfüllerin auf die Gemeinderatsliste – und konnte 2003 prompt ins Parlament nachrücken.

 

Welche Themen interessierten Sie als Gemeinderätin besonders?

Zu Beginn war ich diesbezüglich sehr offen: Ich wollte einen Beitrag leisten, egal wo. Die ersten paar Wochen war ich in keiner Kommission, dann schickte mich die Fraktion in die Spezialkommission Gesundheits- und Umweltdepartement. Obwohl ich ursprünglich Kinderkrankenschwester gelernt habe, kamen mir Zweifel: Kann ich das überhaupt, fragte ich mich, überwältigt von Pflichtbewusstsein und dem Gefühl, eine grosse Verantwortung zu tragen. Doch Christine Marchetto, deren Gemeinderatssitz ich geerbt hatte, versicherte mir, das komme schon gut, und so machte ich mich daran, mich einzuarbeiten. Den damaligen Gesundheitsvorsteher Bobby Neukomm ärgerte ich gleich mal gewaltig, indem ich forderte, die Frauen müssten gleichviel verdienen wie die Männer …

 

Später waren Sie in der Spezialkommission Hochbaudepartement/Stadtentwicklung, in der Rechnungsprüfungskommission, in der Parlamentarischen Untersuchungskommission ERZ, in der Geschäftsprüfungskommission und zuletzt in den besonderen Kommissionen zur Bau- und Zonenordnung und zu den Richtplänen: Wie sind Sie auf den Geschmack für all diese Themen gekommen?

Die Stadtentwicklung hat mich immer schon interessiert. Doch ich machte erst noch eine Ausbildung an der Textilfachklasse der Kunsthochschule und arbeitete als Gewandmeisterin bei Oper und Theater, bevor ich Ökonomin sowie Professorin für Raumplanung und Siedlungsentwicklung wurde.

 

‹Nur› um den Job als Gemeinderätin zu machen, wäre das kaum nötig gewesen.

Nein, aber es war mein Wunsch: Ich wollte das, was mich politisch interessierte, auch beruflich integrieren können. Dank dem Gemeinderatsmandat habe ich mich beruflich stets um- und weitergebildet. In der Stadtentwicklungskommission war das Maag-Areal mitsamt dem Prime-Tower das erste Geschäft, an dem ich mitarbeitete, und wieder erging es mir wie seinerzeit in der Gesundheitskommission: Ich spürte die Last der Verantwortung auf meinen Schultern – schliesslich ging es hier darum, die Weichen für die nächsten fünfzig Jahre Stadtentwicklung zu stellen. Ich wollte mehr wissen, um richtig mitentscheiden zu können, und landete so im Studium der Raumplanung und Siedlungsentwicklung. Als meine Gspänli mich sodann in die Rechnungsprüfungskommission schicken wollten, fand ich, ich hätte ja keine Ahnung von Wirtschaft, weshalb ich auch noch Ökonomie studierte.

 

Wären Sie in die Spezialkommission Sozialdepartement oder in jene des Schul- und Sportdepartements beordert worden, wären Sie demnach heute Professorin für Soziologie oder Pädagogik?

Das ist sehr unwahrscheinlich, denn sowohl die Kommission des Sozialdepartements als auch jene der Schule haben mich nie interessiert. Da man als Mitglied einer grossen Fraktion allerdings nicht einfach frei wählen kann, wohin man am liebsten delegiert werden möchte, hatte ich grosses Glück mit ‹meinen› Kommissionen.

 

Was ist Ihnen als Gemeinderätin gut gelungen, worauf sind Sie stolz?

Grundsätzlich hat es mir stets Freude gemacht, wenn ich Veränderungen mitprägen beziehungsweise auslösen konnte. Die Initiative für zahlbaren Wohnraum, die vor zehn Jahren als wohnbaupolitischer Grundsatzartikel Eingang in die Gemeindeordnung fand, habe ich zusammen mit der heutigen SP-Nationalrätin Jacqueline Badran verfasst. Das war gewissermassen mein Gesellenstück. Einen grossen Beitrag leisten durfte ich auch an die Realisierung der Überbauung Kalkbreite, die auf einen Vorstoss der Gemeinderäte Röbi Schönbächler und Emil Seliner zurückgeht. Dort habe ich viel im Hintergrund gearbeitet und anlässlich einer Kommissionssitzung den Vorschlag durchgebracht, der die Sache schliesslich ins Rollen brachte. Es war ein klassischer Kompromissvorschlag, der den ‹Trämlern› das Einlenken in Sachen Tramdepot ermöglichte und die Maximalforderungen der ‹Kalkbreite-GenossenschafterInnen› auf ein Mass reduzierte, das sie noch mittragen konnten. Dort merkte ich auch, wie wichtig es ist, dass man seine Haltung bewahrt – nur so können einem die Leute auch vertrauen.

 

Wie meinen Sie das?

Für mich ging es darum, das, was die SP gegen aussen vertritt, auch zu leben. So habe ich vor zehn Jahren mit einer Interpellation darauf aufmerksam gemacht, dass man die Bührle-Sammlung genau untersuchen sollte, bevor man sie ins neue Kunsthaus inte­griert. Ich habe den Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission zu den Vorgängen bei Entsorgung & Recycling Zürich mit-angezettelt und bin Motionärin für den neuen Siedlungsrichtplan, den die Stimmberechtigten am 28. November gutgeheissen haben und dessen Umsetzung nun beginnen kann. Darauf bin ich stolz, denn diesem Plan liegt ein neuer, der Nachhaltigkeit verpflichteter ganzheitlicher Ansatz zugrunde. Für eine solche Pionierleistung einstehen, auf diese Weise Politik und Beruf verbinden zu können, das macht Spass und zeigt mir, dass ich nicht für nichts 18 Jahre lang im Zürcher Gemeinderat mitgearbeitet habe.

 

Was hat nicht wunschgemäss funktioniert?

Ich wollte einen Fehler ausbügeln, der uns bei der Revision der Bau- und Zonenordnung passiert war: In einschlägigen Quartieren war es den Sex­arbeiterInnen zonenrechtlich plötzlich nicht mehr erlaubt, in ihren Kleinstsalons selbstständig und unabhängig von Zuhältern zu arbeiten. Das wollte ich ändern. Es hat leider nicht geklappt; alle witzelten bloss, dass ich ein «Staats-Puff» fordere, was überhaupt nicht der Wahrheit entsprach. Zusammen mit Niggi Scherr setzte ich mich gegen zu viele Business-Appartements, Bed & Breakfast und ähnliche Zweckentfremdung von Wohnraum ein, was immerhin in einen guten Bericht von Fahrländer & Partner mündete. Doch ein solcher Bericht allein kann das Problem leider nicht lösen.

 

Was Sie nicht daran hinderte, weitere angeblich nicht realisierbare Vorschläge zu machen …

Auch meine Forderung nach einem Stadtlabor fiel bei der Exektutive durch, was doch einigermassen erstaunlich ist: Schliesslich reden die StadträtInnen ständig vom Kern dieses Anliegens, nämlich einer Partizipation der BewohnerInnen bei grossen Bauprojekten, die diesen Namen tatsächlich verdient. Wie mit der Bührle-Interpellation war ich wohl auch mit der Stadtlabor-Idee schlicht zehn Jahre zu früh dran … Auch beim PJZ warnte ich, es werde zu klein sein, wenn es fertig gebaut sei – wonach es jetzt ausschaut. Immerhin gelang es mir zusammen mit Joe Manser und vielen anderen, die Stimmberechtigten auf die Mängel der Kongresshausvorlage aufmerksam zu machen und diese schliesslich zu verhindern.

 

Wenn man Sie so reden hört, kann man sich schlecht vorstellen, dass Ihr politisches Engagement mit dem Rücktritt aus dem Gemeinderat zu Ende geht.

Was mein Engagement für die Stadt Zürich betrifft, ist es eine Tatsache, dass es zuende ist, denn ich wohne nun in Bern. Allerdings habe ich dort bereits Angebote für einen Listenplatz fürs Stadtparlament bekommen, interessanterweise unter anderem von der Mitte-Fraktion. Und dies, obwohl ich in Zürich offensichtlich nicht mehr in meine Sektion der SP passe, weil ich anscheinend zu progressiv und kritisch bin … Dabei bin ich bloss der Meinung, dass die Politik tot ist, wenn in einer demokratisch geprägten Politlandschaft Kritik, Diskurs und Auseinandersetzungen – auch harte, aber im Kontext der Sache geführte Auseinandersetzungen – nicht mehr möglich sind.

 

Und wie lautet Ihr Fazit über 18 Jahre Zürcher Gemeinderat?

Ich kann nicht aus meiner Haut, aber ich habe mich gern im Gemeinderat engagiert, und ich habe dort trotz meiner Position als Aussenseiterin eine gute Zeit gehabt. Den schönsten Moment erlebte ich am vergangenen 3. Februar, als ich zu einem Postulat von David Garcia Nuñez und Andreas Kirstein von der AL Stellung nehmen konnte, das einen Bericht über die sozialen und politischen Auswirkungen des Spanischen Bürgerkriegs auf die damaligen Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt Zürich verlangte. Mein verstorbener Grossvater war Spanienkämpfer, und als ich im Rat reden durfte, tat ich das auch für ihn und die Menschen, die für ihr Engagement gegen Faschismus denunziert wurden und Unrecht erfuhren. Ich war noch nie so gern Zürcher Gemeinderätin wie an jener Sitzung. Nur schon für diesen schönsten Moment hat sich die Arbeit im Gemeinderat hundertmal gelohnt.

 

Was machen Sie nun mit all der freien Zeit?

Zuerst einmal kaufe ich neue Saiten für mein Cello. Ich möchte gern wieder in einem Orchester spielen, früher war ich im akademischen Kammerorchester dabei. Dann warten gefühlt Tausende Meter feinster Seide darauf, endlich vernäht zu werden. Zudem werde ich künftig mehr Zeit haben, um abends zu trainieren, denn ich plane schon die nächste Himalaya-Tour mit dem Velo. Mehr Zeit haben, um Freundschaften zu pflegen, tanzen zu gehen bleibt mir künftig hoffentlich auch – kurz: Ich habe keine Angst, dass es mir langweilig wird.

 

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