«Ich will Quartiere zum Leben schaffen»

Am 16. Juni wird in Winterthur die Nachfolgerin oder der Nachfolger des abtretenden Stadtrats Jürg Altwegg gewählt. Mit Martina Blum soll eine Politik-Newcomerin mit viel umweltpolitischem und umweltökonomischem Know-how den Platz der Grünen verteidigen.

In der institutionalisierten Politik ist Martina Blum eine Newcomerin: Die 50-Jährige ist seit 2022 Winterthurer Stadtparlamentarierin. Umweltpolitsch interessiert ist sie aber schon seit klein auf, genauer seit dem 29. April 1986 – drei Tage nach der Atomkata­strophe von Tschernobyl. «Wir hatten das Wochenende in den Bergen verbracht», erinnert sich die geborene Augsburgerin bei Kaffee und veganem Kuchen in der Winterthurer Marktgasse. «Und wir haben die ganze Zeit im Gras gespielt, ohne zu wissen, dass es verstrahlt war.» Als die Sowjetunion das wahre Ausmass der Katastrophe zugibt, gibt es in Martinas Familie während Monaten keine Milch mehr, keine Frischwaren, dafür Zeitungsartikel und Radiobeiträge über Becquerel, Geigerzähler, Strahlenschutzwerte. «Für mich waren diese Dinge das, was für meine Kinder R-Werte, Impfquoten und Virusvarianten sind», sagt Blum. «Ich war fasziniert von diesen Dingen, und in dieser Zeit entschied ich: Ich will mich für die Erhaltung der Natur einsetzen.» 

Also studiert Blum in München Umwelttechnik, dann Umweltökonomie in Edinburgh, um Nachhaltigkeit volkswirtschaftlich denken zu können. In einem Austausch in Massachusetts lernt sie ihren Ehemann Thomas kennen, der während seines ETH-Studiums ein Austauschsemester in den USA absolviert. 2000 ziehen sie zusammen nach Winterthur, in die Heimatstadt von Thomas, und gründen ihre mittlerweile fünfköpfige Familie. In Winterthur arbeitet Blum als Nachhaltigkeitsanalystin, dann als Umweltmanagerin von ‹Swiss Re› und AXA, danach ist sie während acht Jahren stellvertretende Energiebeauftragte in der Stadt Zürich, an der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Politik. Diese Schnittstelle bedienen, Verständnis auf beiden Seiten schaffen zu können, ist für Blum eine wichtige Kompetenz für die Arbeit in der Exekutive.

Mickey-Mouse-Ökonomie

Den Sprung von der Schnittstelle in die in­stitutionalisierte Politik unternimmt Blum 2022, als sie ins Winterthurer Stadtparlament gewählt wird. Ein Entscheid, der ganz im Sinne ihres politischen Kernprogramms, der Nachhaltigkeit, ist: Sich dort, wo man lebt und arbeitet mit den eigenen Erfahrungen und Fähigkeiten einbringen. Und: «Ich befasse mich seit 25 Jahren im Umweltmanagement, und seit 25 Jahren höre ich, dass die Rahmenbedingungen stimmen müssen. Mit meinem politischen Engagement kann ich selber dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen stimmen.»

Sollte die Wahl-Winterthurerin am 16. Juni in den Stadtrat gewählt werden, will sie wegkommen von einer «Mickey-Mouse-Ökonomie, in der das Finanzielle den grossen Kopf bildet und Soziales und Ökologisches die beiden kleinen Ohren sind». Das heisst: Weg von fossilen Brennstoffen und hin zu mehr stadtverträglicher Mobilität, mehr und attraktivere Velo- und Fusswege, mehr Grünflächen im asphaltlastigen Winterthur, mehr Kreislaufwirtschaft, mehr Integration und Inklusion in Schulen, mehr Mitbestimmungsrecht für Jugendliche. Und nicht zuletzt will Blum die Identifikation der Winterthurer:innen mit ihrer Stadt stärken, sei das durch Anlässe wie die Musikfestwochen und das Albanifest oder durch die Sirupkurve im Stadion Schützenwiese. «Ich will Quartiere zum Leben schaffen – für uns und die nächsten Generationen», fasst Blum ihre Pläne für die Legislaturperiode bis 2026 zusammen. Über das Departement, von welchem aus sie diese Pläne im Falle eines Wahlsieges verfolgen würde, macht sich Blum vorerst keine Gedanken. Sie sei vielseitig interessiert, müsse nicht unbedingt Vorsteherin des Umwelt- und Sicherheitsdepartements werden – auch wenn sie in diesem Bereich das grösste Fachwissen mitbringe. 

Innerparteilicher Gegenwind?

Zuallererst muss sich Blum aber gegen FDP-Kandidatin Romana Heuberger durchsetzen, mit der ein bürgerlicher Schulterschluss aus FDP, Mitte und SVP die progressive Mehrheit im Stadtrat kippen will. Für die Siegeschancen von Blum spricht, dass sie aufgrund ihres marktwirtschaftlich vergleichsweise freisinnigen Kurses auch vonseiten der Grünliberalen Unterstützung erhält. Für diese Offenheit zur Mitte habe sie einen gewissen innerparteilichen Gegenwind gespürt, gibt Blum zu. «Vermutlich liegt das aber auch daran, dass meine soziale Seite bisher zu wenig wahrgenommen wurde. Zum Beispiel, dass wir als Gesellschaft hinterfragen sollten, ob Menschen, die mit Menschen arbeiten, seien es Lehrerinnen oder Pfleger, nicht mehr verdienen sollten, als diejenigen, die mit Geld arbeiten.» 

 

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