Ich glaube

Ich glaube, ich glaube nicht so oft an das Gute im Menschen, nur manchmal, kürzlich dafür ganz besonders.  Ich war an der Buchvernissage eines Freundes, der zur Ästhetik der Rührung geschrieben hat. Der Freund selbst ist ein tief denkender und fühlender Mensch, das wusste ich, wie sehr wurde mir teilweise erst an dieser Lesung bewusst. Es war wohltuend auf eine vielschichtige Art. Menschen zu beobachten, die anderen zuhören und ganz eingenommen sind von dem, was gesprochen wird, haben es mir immer schon sehr angetan. Es hatte viele von ihnen an diesem Abend. Menschen, die eine Lust und Begeisterung für einen Gegenstand haben, ihn diskutieren, hinterfragen, an ihm zweifeln, ebenso. So vergeistigte Wesen, ehrlich bewegt und zugetan, sind immer irgendwie berauschend für mich. 

Dazu kommt, dass die Rührung als Gefühl mir alles andere als fremd ist. Ein anderer guter Freund, mit dem ich vor vielen Jahren im Kantonsrat sass, wird sich daran erinnern. Wann immer nämlich Gäste auf der Tribüne im alten Rathaus am Limmatquai persönlich vom Kantonsratspräsidenten oder der Kantonsratspräsidentin begrüsst wurden, hatten wir Wasser in den Augen. Ich musste mich nur kurz zu ihm umdrehen und sah in ihm, was auch in mir vorging: eine unmittelbare Rührung ob der Situation, vielleicht, weil sie sich erhaben und zugleich ehrlich anfühlte, wie wir Parlamentarier:innen dastanden und den Gästen applaudierten. Auf jeden Fall durfte ich mich dann nicht mehr umdrehen in diesen Situationen, wir wären beide in Tränen ausgebrochen. Nach der Lesung traf ich auf einen Bekannten. Ihm war immer wieder durch den Kopf gegangen, während der Veranstaltung, wie wir alle hier sassen und uns über Rührung unterhielten, während anderswo der Krieg tobte, die Dämme brachen, die Erde bebte. Sodom und Gomorrha also, während wir uns um ein Gefühl kümmerten. Das hat mich dann nicht mehr losgelassen, weil ich ja selbst so eingetaucht war in die Schönheit der Gedanken dieser Lesung und dann offenbar den Krieg vergessen hatte und das Leiden um uns herum. Das Dilemma an und für sich war und ist mir nicht fremd. So oft habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich glücklich bin, weil es anderen so schlecht geht, und ebenso habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn es mir schlecht geht, weil andere ja noch viel schlimmer dran sind. Dann habe ich mir allerdings den Krieg einmal ganz genau überlegt. Das Elend. Die Angst. Die Verzweiflung. Den Tod. Und dann kam tatsächlich so etwas wie Hoffnung. 

Die grössten Momente der Rührung nämlich hatte ich im Zusammenhang mit den Schrecken dieser Welt, und zwar immer dann, wenn Menschen das Menschlichste in sich mobilisierten. Oder vielleicht ist das falsch, es ist nicht das Menschlichste, sondern es ist schlicht der Moment, in dem Menschen vollkommen gegen oder auch ganz ohne eigene Interessen agieren, in höchstem Grade unegoistisch, vielleicht sogar so weit gehen, sich selber zu schaden oder in Lebensgefahr zu bringen, um anderen zu helfen, zu retten. Der Krieg, die Katastrophe, so schien mir plötzlich, sind nicht das Gegenstück zur Rührung, kein Widerspruch, sondern die Umgebung, die eine Vollendung dieses Gefühls überhaupt erst möglich machen. Mir fielen Geschichten ein über all die mutigen Menschen, die Verfolgte bei sich verstecken. Über die, die tage- und nächtelang mithelfen, Überlebende in Trümmern zu suchen, mit baren Händen, am Rande der Erschöpfung. Menschen, die ihr schönes Leben hier aufgeben, um in Lagern in Griechenland Gestrandeten und Vergessenen zu helfen. Menschen, die sich von Verboten nicht abhalten lassen und trotzdem Flüchtlinge im Mittelmeer retten, oft unter bedrohlichsten Umständen, Menschen, die sich Diktaturen widersetzen und trotzdem demonstrieren gegen Unterdrückung, trotzdem sagen und schreiben, was sie denken und dabei nicht wissen, ob es vielleicht das Letzte ist, was sie tun. Damit andere, ihre Kinder, Freunde vielleicht einmal in Freiheit leben dürfen. Wenn ich über solche Beispiele lese, habe ich oft Tränen in den Augen. 

Rührung, in diesem Zusammenhang, ist dann nicht nur eine Reaktion, sondern ein Beweis: für das Gute im Menschen. Solange das so ist, gibt es Hoffnung. 

Das glaube ich. 

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