Ich denke, also film ich

Für eine Midlife-Crisis ist es schon zu spät, für eine Lebensrückschau noch zu früh, aber was reihum in der Welt oder dem Quartier vor sich geht, ist dermassen irritierend, dass ein Fragen in den Raum stellen auch ohne konkreteren äusseren Anlass jederzeit legitim ist. Stefan Haupt (*1961) tut dies mit «Zürcher Tagebuch».

 

In vulgärem Dialekt einer vergangenen Zeit liesse sich der momentane Zustand eines Einzelnen angesichts der Herausforderungen der Welt so zusammenfassen: «Es isch zum Haaröl seiche.» Jetzt wohnen nicht alle so hoch oben, dass sich ein Sprung aus dem Fenster als Lösung anerböte, und an sich ist das Leben als solches ja auch schön. Der Amazonas oder wahlweise Australien brennt und ausser ohnmächtiges vor dem Fernseher (oder einem x-beliebigen bildtransportierenden Format) Kleben kommt augenscheinlich niemandem etwas zielführendes zu einer schnellen, aktiven Gegenwehr in den Sinn. Der Hochfrequenz-Börsenhandel ist bereits dermassen automatisiert, dass kein menschlicher Händler mehr den Durchblick hat, weshalb genau dies oder das jetzt grad vonstatten geht, geschweige denn, dass dieser regelrechte Selbstläufer überhaupt gestoppt werden könnte, weil diese Folgen schon gar nicht absehbar sind. Handkehrum ist Stefan Haupt in Zürich aufgewachsen und wohnt sogar noch immer auf Stadtboden, hat vier teils bereits erwachsene Kinder mit Eleni Haupt. Landläufig könnte man sagen: Es geht ihnen gut. Aber schon dieser Satz wird in einem linken oder linksalternativen Bewusstsein zu so etwas wie einem latenten schlechten Gewissen ergo zu einem Selbstvorwurf. Denn bereits die Tatsache, hier auf die Welt gekommen zu sein, ist global betrachtet ein ausserordentliches Privileg. Ein Geschenk, woraus eine Verpflichtung erwächst, etwas Sinnstiftendes daraus zu erschaffen. Aber was? Angesichts der reihum an sämtlichen Rändern dringlich unter den Nägeln brennenden Themen, die einer allein schon intellektuell kaum zeitgleich zu bewältigen vermag, geschweige denn wie ein Don Quijotte mit multipler Persönlichkeit auf alle Windmühlen gleichzeitig loszureiten, die ursprüngliche Absicht nicht weniger fragwürdig erscheinen lässt. Zurück auf Feld eins. 

 

Orientierungshilfe

Wer ist Stefan Haupt? Ein Filmemacher. Also übersetzt er sein essayistisches Fragen über Fragen fragen auf Bewegtbild mit Ton. Die Tonspur von Nicolas Nagy ist feinste, vorwärtstreibende Clubmusik und in all diesen Wirrungen und Unzulänglichkeiten im Film auch so etwas wie der Halt. Ein Halt, der rückblickend auch durch einen moralischen Kompass, ein entschiedenes Dagegensein innerhalb einer heterogenen, aber wild entschlossenen Gruppe und eine politische Grundwertehaltung möglich war. Oder schien. Jetzt rennt die Welt davon oder zumindest die Geschwindigkeit, in der die kleinste nennenswerte Bewegung irgendwo auf dieser Kugel Pushmeldungen aufs Smartphone generiert, ist so schnell geworden, dass einem darüber der Schädel zu brummen droht. Also zurück zu den Gewissheiten à la «Kindermund tut Wahrheit kund» und die eigenen Kinder fragen. Die jüngste ist, wie zu erwarten war, besonders altklug, während die älteste Anwesende in ihrer Hochpubertät über einen weltgewandten Pragmatismus verfügt, der jede vorschnell verurteilende Abkanzelung einer sogenannt heutigen Jugend geradezu verbietet. Dann die Eltern und – das ist der kritische Punkt dieses Films – auch die Grossmutter, die bereits augenscheinlich zu dement ist, um zu realisieren, wozu sie hier nachgerade genötigt wird. Die Sequenz gehört rausgeschnitten! Von den Eltern über das eigene Aufwachsen führt die Spur zu zwei damals in der Familie aufgenommenen Geflüchteten aus Kambodscha, deren aktueller Lebensstand zur Thematik von heute hier ansässigen, anerkannten Asylbewerbern führt und zu vielen weiteren medial bekannten und auch kaum bekannten Fachpersonen, deren Leinwandpräsenz aber teilweise etwas gar kurz gerät. Zumal die von ihnen angetippten Problemkomplexe in der Tat dermassen komplex sind, dass sie in zwei, drei Sätzen alleine nicht abschliessend behandelt werden können. Aber Antworten sind ja nicht das Wesen eines Tagebuchs, sondern vielmehr wild mäandernde Einfälle und im Wortsinne fantastische Eingebungen für potenzielle Lösungsansätze. Grundsätzlich sehr positiv zu bewerten ist der allgemeine Tonfall des Films: Er ist zum Glück nicht weinerlich und der Autor steht auch zu seiner eigenen Unvollkommenheit, was gut und gerne mit herablassender Arroganz kaschiert werden will, was Stefan Haupt wohlweislich unterlässt. Er fragt und fragt und fragt. Und bleibt seinem Alter, seiner Sozialisation und seiner Lebenslage gemäss humanistisch und lebensbejahend und wissbegierig gestimmt. Denn das ärgste, was passieren könnte, wäre der Verlust des Elans, zumindest versuchsweise ein kritisches Bewusstsein gegenüber den Überforderungen zu bewahren, ja zu behaupten und nach Möglichkeiten darin nicht nachzulassen.

 

«Zürcher Tagebuch» Kinos Houdini, Kosmos, LeParis.

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