«Ich befürchte keine Entzugserscheinungen»

Die eine sass 14 Jahre im Kantonsrat, die andere 7. Beide kamen am Montag zum letzten Mal aus der Provinz ins Rathaus. Was die SP-Frauen Renate Büchi (Richterswil) und Sabine Sieber (Sternenberg) sonst noch verbindet und was sie als nächstes vorhaben, erklären sie im Gespräch mit Nicole Soland.

Sie waren beide lange in den Exekutiven Ihrer Gemeinden tätig, Renate Büchi 20 Jahre als Gemeinderätin in Richterswil, Sabine Sieber 23 Jahre als Gemeinderätin und -präsidentin in Sternenberg. Das würde manch einer reichen – warum taten Sie sich zusätzlich noch die Arbeit im Kantonsrat an?

Renate Büchi: Für mich war die Arbeit im Parlament eine sehr gute Ergänzung. Schliesslich erarbeiten wir im Kantonsrat die Gesetze, die dann in den Gemeinden umgesetzt werden müssen. Deshalb finde ich es sinnvoll, dass VertreterInnen der Exekutiven in die Arbeit im Rat eingebunden sind. Wir beide haben diesbezüglich obendrein für mehr Ausgeglichenheit in der SP-Fraktion gesorgt, in der sonst die ‹reinen› ParlamentarierInnen überwiegen.

Sabine Sieber: Es ist wichtig, als Fraktion auch Leute im Boot zu haben, die aus der Praxis kommen und wissen, was die Beschlüsse, die das Parlament fasst, in den Gemeinden draussen letztendlich bedeuten. Anlässlich der Gemeindefusion von Sternenberg und Bauma empfand ich meinen Sitz im Kantonsrat als optimal, gerade auch wegen der Verbindungen, die man dann hat, seis zu den RegierungsrätInnen oder zur Verwaltung. Das erleichtert es einem, Einfluss zu nehmen und auch etwas für die Gemeinde herauszuholen. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass die Bürgerlichen so viele GemeinderätInnen und -präsidentInnen in ihren Reihen haben.

R. B.: Ja, das Beziehungsnetz ist ein wichtiger Faktor. Ich war lange Sicherheitsvorsteherin von Richterswil und hatte gute Verbindungen zum Kanton. Aus einer solchen Position heraus hat man die Möglichkeit, mit allen zu reden, und muss nicht allein in seiner Gemeinde sitzen und zu interpretieren versuchen, was der Kanton einem so alles mitteilt. Umgekehrt fand ich es als Kantonsrätin nicht nötig, immer gleich eine Interpellation zu machen, wenn ich etwas wissen wollte: Vieles kann man genauso gut erledigen, indem man kurz zum Telefonhörer greift, Fragen stellt, direkt miteinander redet und die Situation der Gemeinden einbringt.

Nichtsdestotrotz hatten Sie als Parlaments- und Exekutivmitglieder zwei Hüte gleichzeitig auf. Machte Ihnen das keine Probleme?

R. B.: Bei den Bürgerlichen kam es schon mal vor, dass es jemandem schwerfiel, seine unterschiedlichen Hüte als Gemeinde- und Kantonsrat auf einen Nenner zu bringen; das erlebte ich im Rat ab und zu. Selber fand ich es nicht so schwierig; ich habe darauf geachtet, kongruent zu sein und das, was ich im Rat vertrat, auch in der Gemeinde zu sagen und umgekehrt. Dass nicht immer alles 100 Prozent ideal lief, versteht sich dennoch von selbst.

S. S.: In der Politik geht es ein Stück weit darum, das Gesamte anzuschauen: Im Vordergrund steht für mich nicht primär die Parteipolitik, sondern das Wohl des Staates und unserer BürgerInnen. Das gilt für die Arbeit im Parlament genauso wie für die in der Exekutive.

Wo beziehungsweise wie hat es sich ganz konkret positiv ausgewirkt, dass Sie sowohl Parlaments- wie auch Exekutivmitglieder waren?

R. B.: Ziemlich am Anfang meiner Zeit als Kantonsrätin haben wir das Polizeiorganisationsgesetz POG beraten. Meine Zuständigkeit für die Gemeindepolizei von Richterswil hat es mir ermöglicht, Kontakt zu andern Gemeindepolizeien des Kantons Zürich zu haben, und als es dann darum ging, deren Position im POG zu stärken, konnte ich Einfluss nehmen: Ich habe mir zugetraut, eine Ahnung zu haben, wie Gemeindepolizeien arbeiten, nicht nur jene in Richterswil. Als Neuling im Rat war ich nicht in der zuständigen Kommission und habe deshalb noch einen Antrag gestellt, als das Geschäft bereits im Plenum war. Ich musste mir sagen lassen, das werde normalerweise nicht goutiert. Doch mein Antrag kam durch, und so konnte ich die Ausgestaltung des POG mit beeinflussen. Aber oft hatte das doppelte Amt auch weniger konkrete Auswirkungen, sondern eher solche in der ‹Chemie› …

S. S.: … oder im Informationsfluss: Als Gemeindepräsidentin habe ich viele Informationen von der Regierung bekommen, die ich zum Teil auch im Kantonsrat nutzen konnte. Wie komfortabel das war, merkte ich erst, als ich nicht mehr Gemeindepräsidentin war. Plötzlich musste ich mich selber darum bemühen. Zudem war ich zuvor auch auf gewisse Dinge aufmerksam gemacht worden. Rechtzeitig auf ein Thema aufmerksam zu werden und reagieren zu können, ist sowieso das A und O – und gleichzeitig die grösste Schwierigkeit – in der Politik.

R. B.: Das ist auch der Punkt, den ich nach dem Abschied am meisten vermissen werde: Als Kantonsrätin ist man über alles informiert, nicht mehr ganz so gut wie als Exekutivmitglied, aber dennoch: man weiss viel und erfährt viel, und das habe ich sehr geschätzt. Als politisch interessierter Mensch wird mir das fehlen. Nur noch in der Zeitung darüber zu lesen, womit sich der Kantonsrat beschäftigt hat, ist nicht dasselbe.

S. S.: Ja, man ist rasch weg vom Geschehen.

R. B.: Als Kantonsrätin wurde ich immer mal wieder von Leuten aus meinem Umfeld oder auch von WählerInnen auf Themen
angesprochen, zu denen sie etwas in der Zeitung gelesen hatten, es aber noch genauer wissen wollten. Dann konnte ich Auskunft geben, und wenn ich etwas selber nicht wusste, konnte ich ihnen jemanden vermitteln, der sich damit auskannte. Das habe ich immer gern gemacht.

Kommen wir zum «Best of» Ihrer Zeit im Kantonsrat: Was sind Ihre persönlichen Highlights?

R. B.: Das Gewaltschutzgesetz, das ist mein «Best of». Es ist unterdessen zehn Jahre her, aber dort konnte ich voll mitarbeiten, und es war für mich ein Highlight.

S. S.: Ich war in der Finanzkommission, da ist für uns Linke das «Best of» etwas schwieriger zu formulieren (lacht). Wir machten erstens keine Gesetze und waren zweitens permanent in der Opposition. Mein Highlight bildet am ehesten die Tatsache, dass ich gelernt habe, es auszuhalten, stets in der Minderheit zu sein und trotzdem weiterzumachen. Ich trete übrigens auch keineswegs aus Frust zurück.

R. B.: Im Gegensatz zur Stadt Zürich ist man auf dem Land als Linke ebenfalls in der Minderheit. Eine Gemeinderatskollegin sagte einmal zu mir, als gerade wieder ein Antrag von mir bachab gegangen war, sie würde das nicht aushalten. Ich entgegnete ihr, es sei Übungssache – im Kantonsrat würde ich auch stets verlieren… Man muss auch das letztendlich wieder positiv umsetzen können. Es war auf jeden Fall keine schlechte Übung.

S. S.: Es lehrt einen, dranzubleiben und mehr Biss zu haben. Es lehrt einen aber auch, die ‹GegnerInnen› zu verstehen versuchen. Das müssen wir, die wir in der Opposition sind, wahrscheinlich mehr als sie. Das ist nicht zuletzt eine gute Lebensschule. Im Gemeinderat hingegen kann man mit sachlichen Argumenten und gemeinsam mit der Bevölkerung aus dieser Rolle herauskommen.

R. B.: Stimmt, der Gemeinderat war super. Auch wenn nicht immer alles so lief, wie ich es gern gehabt hätte, waren dort sehr viele gute Sachen möglich. Dort hat man sein Ressort und seine Kompetenzen, und dort konnte ich meine Ideen umsetzen. Zudem hatte ich Kontakt zu vielen verschiedenen Leuten. Das war eine sehr gute Zeit; das habe ich genossen.

S. S.: Der Gemeinderat und vor allem das Gemeindepräsidium, das war auch für mich das Nonplusultra. Das sind die schönsten Ämter, die man haben kann; dort ist man nahe bei den Leuten und kann etwas bewegen. Im Parlament hingegen ist man weg von den BürgerInnen, und manchmal fragt man sich schon, wen das überhaupt interessiert, was man Montag für Montag macht. Ausser von der Partei, von Nachbarn oder mal von jemandem aus dem Freundeskreis hört man meist nichts und erfährt erst am Abstimmungssonntag, was die Leute von unsern Entscheiden hier halten. Wobei wir dann zwischendurch auch wieder mal ein Highlight haben…

Und was war Ihr grösster Frust?

R. B.: Seit ich 2003 in den Rat gekommen bin, musste ich ein Sparprogramm nach dem andern über mich ergehen lassen. Das war tatsächlich frustrierend. Jedes Mal hiess es in der Budgetdebatte, wir haben kein Geld, wir müssen sparen. Gut, unterdessen nennt man es «Leistungsüberprüfung», man wird immer kreativer in der Wortwahl, es tönt besser als «ein Sparpaket schnüren», aber ändern tuts nichts. Dabei ist es keineswegs so, dass ich das Geld für unwichtig halte. Doch ich habe bis heute nicht verstanden, weshalb Jahr für Jahr dort gespart werden muss, wo ich nicht sparen möchte. Jedes Jahr hat es damit geendet, dass mich nach Abschluss der Budgetdebatte eine Art Grippe angefallen hat: Ich war jeweils einfach am Ende.

S. S.: Obendrein stimmt es einfach nicht, dass «das Bisschen sparen» eigentlich gar nichts ändert: Es wird effektiv abgebaut. Bei der ‹Husi› habe ich es hautnah miterlebt. Es sind auch oft kleine Sachen, die man mit der Zeit vergisst, Kompetenzen, die man abbaut – und irgendwann weiss man nicht mehr, dass man sie mal hatte. Auf der anderen Seite lässt man die grossen Fische wie etwa die Hirslanden-Gruppe einfach laufen, um den aktuellsten Frust auch noch zu erwähnen.

R. B: Bei der Prävention etwa oder bei der Opferhilfe wurde immer wieder der Rotstift angesetzt. Dabei ging es meist nicht um grosse Beträge, es war insofern nicht einmal begründet. Aber die Bürgerlichen hatten diese Stellen auf dem Radar, und sie hatten die Mehrheit, also strichen sie einfach drauflos. Das Budget war der jährlich wiederkehrende schwierige Moment für mich.

S. S.: Schwierig fand ich jeweils auch die Prioritätensetzung: Verschiedene Themen stehen im Raum – wo soll das Parlament aktiv werden? Heute ist das ein Stück weit dadurch geprägt, wer am lautesten bellt; dort setzt man an. Dabei ist noch lange nicht gesagt, dass dieses Thema tatsächlich  am meisten brennt. Aber für die anderen Themen reicht dann halt die Zeit nicht mehr.

Am Montag sassen Sie zum letzten Mal auf Ihren Plätzen im Rathaus: Was machen Sie gegen den Entzug?

R. B.: Ich befürchte keinen Entzug… ich arbeite schon lange 70, bisweilen auch 80 Prozent, und zudem bin ich eine grosse Anhängerin von gemeinnütziger Tätigkeit, zu Deutsch: Ich kann nicht Nein sagen. Unterdessen habe ich vier solche Ämter, wovon deren zwei recht viel Arbeit machen. Aber eine zeitliche Erleichterung bedeutet das Wegfallen des Kantonsratsmandats auf jeden Fall. Zudem haben sich meine Prioritäten schon etwas verschoben: Ich wollte nicht nochmals antreten bei den Wahlen, weil ich fand, 16 Jahre seien genug. Nun sinds halt nur 15 geworden, aber jetzt ist ein guter Moment, um aufzuhören. Mit vier unterdessen erwachsenen Kindern, zwei Enkeln und einem 70-Prozent-Job habe ich die letzten 34 Jahre recht viel gearbeitet. Jetzt schwebt mir doch tatsächlich ein Montag vor, an dem ich ausgiebig joggen gehen kann, danach ausgiebig die Zeitung lesen, dann vielleicht ein Nickerchen machen, später einen Kaffee trinken (lacht)…

S. S.: Ich höre wegen der Arbeit auf. Eigentlich hätte ich länger im Kantonsrat mittun wollen als sieben Jahre, doch in meinem Betrieb müsste ich 100 Prozent da sein, und im Kantonsrat möchte ich mich auch voll engagieren. Das hat dazu geführt, dass ich in den letzten Jahren immer am Limit war. Dabei möchte ich lieber etwas richtig machen, als zwei grosse Sachen nur halb. Doch ich kann mir nicht mehr Personal für meinen Betrieb leisten, und auf der anderen Seite finde ich, dass es angesichts von Themen wie etwa der Zukunft der Axpo jemanden im Kantonsrat braucht, der sich so hundertprozentig einsetzen kann, wie ich es gern gemacht hätte. Da sollen Leute ran, welche die Zeit und die Power dafür haben. Mit meinem Nachfolger Fabian Molina und Carmen Marty-Fässler, die für Renate nachrückt, ist dafür bestens gesorgt.

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