Hühner versichern, Plakate verschicken

Seit vierzig Jahren ist das Sozialunternehmen ‹Espas› in der Arbeitsintegration tätig. Ein Rundgang im Hönggerberger Hauptstandort: ein Arbeitsort mit geringem Leistungsdruck, ohne Profitorientierung, aber mit wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit.

 

Sergio Scagliola

 

Neben dem Nordhöngger Weiler Rütihof steht das mehrstöckige ‹Espas›-Gebäude inmitten einer ruhigen Wohnsiedlung. Im Eingangsbereich grüssen sich einige Leute im zügigen Vorbeigehen. Zielstrebig eilen Menschen umher, treten aus einer Tür heraus, hinter der man ein Grossraumbüro erkennen kann, und verschwinden in einer Logistikhalle. Es erschliesst sich auf den ersten Blick nicht, was hier alles gemacht wird.
Geschäftsführerin Rita Durschei erläutert: «Die ‹Espas› als Sozialunternehmen, welches für und mit Menschen mit einer psychischen oder physischen Erwerbsbeeinträchtigung arbeitet, hat zwei Standbeine, die sich auf zwei Gruppen fokussieren: Menschen, die bei der IV-Stelle angemeldet sind und in ihrer (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützt werden, und Menschen mit einer IV-Rente, die einen angepassten Arbeitsplatz suchen.» Hier sollen sie sich auf den Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten oder am Arbeitsleben teilhaben können. Die Menschen an einem angepassten Arbeitsplatz haben einen Arbeitsvertrag mit ‹Espas› und erhalten einen Leistungslohn zusätzlich zur IV-Rente. Konkret bietet die ‹Espas› aber völlig marktübliche Dienstleistungen an, die sich über verschiedenste Abteilungen erstrecken: ein hausinternes Callcenter für externe Firmen, lokale Verwaltung von Onlineshops und damit verbunden eine eigene Logistikabteilung, Dienstleistungen im Bereich der Verwaltung, Buchhaltung und IT, aber auch eine Wäscherei befindet sich im Gebäude. In einem auf sie zugeschnittenen und deshalb grösstenteils druckfreien Umfeld können hier Menschen mit insbesondere psychischen, aber auch physischen Erwerbsbeeinträchtigungen an einem angepassten Arbeitsplatz arbeiten. Das geschieht in Form einer Anstellung bei den Rentenbeziehenden oder in Form einer Ausbildung wie einer Lehre, die bei der ‹Espas› absolviert werden kann. Dieses Arbeitsumfeld bringe aber auch nicht fundierte Kritik von Menschen, die die Abläufe in Sozialunternehmen nicht kennen, mit sich, erklärt Rita Durschei: «Es gibt Leute, die das Gefühl haben, wir würden Unmengen Sozialgelder ohne Gegenleistung erhalten. Dem ist nicht so. Einerseits sind wir nicht direkt an die IV angebunden, sondern arbeiten mit der IV als Integrationspartner zusammen. Bei den Personen, die keine IV-Rente beziehen, gilt das Prinzip ‹Eingliederung vor Rente›. Darum ‹kaufen› die IV-Stellen diverse Massnahmenprodukte für ihre Kundinnen bei ‹Espas› ein, wie zum Beispiel eine Ausbildung im IT-Bereich. Während den Massnahmen werden die Teilnehmenden von der IV finanziell entschädigt. Bei den angepassten Arbeitsplätzen erhalten wir pro Platz Betriebsbeiträge vom Kantonalen Sozialamt für unsere Förderungs- und Entwicklungsarbeiten. Damit wir unseren arbeitsagogischen, wirtschaftlichen und sozialen Auftrag erfüllen können, sind wir aber auf Aufträge angewiesen. Dadurch sind wir gezwungen, marktwirtschaftlich zu agieren, wie jede andere Firma auch, und erledigen unsere Aufträge auch wie jede andere Firma.»

 

Gratwanderung

Der ‹Espas› würden die Aufträge schliesslich nicht gegeben, weil sie etwa günstiger arbeite. Die Kundenanforderungen seien branchenüblich. Das sei wichtig, wenn genau das den zentralen Punkt in der Philosophie darstelle: ein ‹normales› Arbeitsumfeld, in dem man sich nicht aufgrund seiner individuellen Beeinträchtigung ausgegrenzt fühle. Aber die ‹Espas› muss sich so auch auf eine Gratwanderung begeben: zwischen den staatlichen und kantonalen Förderungen, der Anbindung an die Sozialversicherungsinstitutionen und der Notwendigkeit, am Markt teilzunehmen. Rita Durschei erkennt darin nicht nur Vorteile: «Es wird erwartet, dass wir mindestens kostendeckend agieren. Das ist nicht ganz einfach, wenn man bedenkt, dass wir durchaus mehr Ressourcen für die Fertigstellung eines Auftrags aufwenden müssen. Dieser Realität muss man sich bewusst sein: Die hier beschäftigten Menschen mit einer Erwerbsbeeinträchtigung können nicht dieselbe Effizienz an den Tag legen, wie es ein Durchschnittsunternehmen kann. So können wir auch nicht die Aufträge bis an die Decke stapeln lassen, wenn wir gute, zuverlässige Arbeit garantieren. Die Volatilität im Arbeitsalltag bei uns ist hier zentral, weil wir aus gesundheitlichen Gründen nicht jeden Tag mit jeder Person rechnen können. Und gleichzeitig sollen wir komplett konkurrenzfähig als Dienstleister sein. Das bringt grosse Herausforderungen in der Koordination mit sich.»

 

Angenehmes Arbeitsklima

Und dennoch schafft es die ‹Espas›, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, von dem viele Arbeitnehmende nur träumen können. Wenig Druck, Wertschätzung der individuellen Arbeit, meist gute Laune in den Büros, unkomplizierte Abläufe bei der Bewältigung von Schwierigkeiten im Arbeitsalltag – und natürlich Barrierefreiheit in den allermeisten Belangen. Das sei gerade bei der ‹Espas›, die viele Menschen mit psychischen und physischen Erwerbsbeeinträchtigungen anstellt, nicht immer einfach zu implementieren, so Rita Durschei: «Wir machen, was wir machen können. Verschiedene Menschen mit verschiedenen Erkrankungen kann man nicht unter dem Stichwort Barrierefreiheit in einen Topf werfen. Alle haben verschiedene Bedürfnisse und auch verschiedene Kompetenzen.» Dieses Arbeitsumfeld wird insbesondere vom arbeitsagogisch ausgebildeten Fachpersonal so positiv gestaltet. Dieses Personal zu finden, ist eine He­rausforderung: «Versuchen Sie mal, TreuhänderInnen und BuchhalterInnen zu finden, die arbeitsagogisch ausgebildet sind. Zudem sind die Schicksale der Beeinträchtigten zum Teil ‹happig› und der Umgang mit ihnen will gelernt sein. Darum ist ein professionelles Verständnis von Nähe und Distanz für alle Fachpersonen sehr wichtig. Es wird viel gefordert, und die Anforderungen sind in den letzten Jahren weiter gestiegen.»

 

Die Rolle der ‹Espas› zwischen öffentlicher Förderung und privater Marktwirtschaft ist aussergewöhnlich. Das bringt Schwierigkeiten mit sich, zum Beispiel, nicht an den klassischen Arbeitsmarkt angebunden zu sein. Gleichzeitig müssen die Abgänge, etwa wenn die Reintegration glückt, ausgeglichen werden: «Damit wir unseren Leistungsauftrag erfüllen können, benötigen wir für alle Beschäftigten genügend Aufträge und Unternehmen, die uns Einsatzplätze für Lernende, Teilnehmende und Mitarbeitende zur Verfügung stellen. Zudem sind wir auf Teilnehmer­Innen die an unseren Massnahmen (Vermittlung durch IV) interessiert sind, MitarbeiterInnen an einem angepassten Arbeitsplatz und unser Fachpersonal angewiesen. Dass wir alles unter einen Hut bringen, verdanken wir der hohen Motivation aller Beschäftigten und der Freude an jeder gelungenen Integration.»

 

Rundgang beim Rütihof

Um einen Einblick in die diversen Arbeitsalltage beim Sozialunternehmen zu bekommen, ist ein kurzer Rundgang mit dem Bereichsleiter Dienstleistungen Benjamin Gsell eingeplant. Er beginnt auf dem Stockwerk, das einst die gesamte ‹Espas› war und wo sich heute die Abteilungen Administration, Buchhaltung und die Wäscherei befinden. Hier werden Bestellungen von Onlineshops verarbeitet, für Telefonanbieter SIM-Karten gewechselt, aber auch für Landwirtschaftsbetriebe die Versicherung mehrerer Millionen Hühner verwaltet. Im Grossraumbüro herrscht leichter Tumult. Telefone klingeln, Tastaturen knattern und dennoch – das halbe Büro ist leer. Der Ort ist exemplarisch: Die, die hier sind, arbeiten motiviert und mit sichtbarer Freude. Die, die nicht hier sind, können bei Bedarf stets auf einen Arbeitsplatz zurückgreifen.

 

Ein Stockwerk weiter unten, im hausinternen Callcenter, schellen konstant Telefone. Verschiedene Firmen haben ihre telefonischen Dienste hierhin ausgelagert, weshalb die Mitarbeitenden hier die Telefonate im Namen einer anderen Firma abnehmen – zur generellen Auskunft, Anfragenbearbeitung oder auch lediglich, um mitzuteilen, dass die verlangte Person gerade nicht im jeweiligen Büro sei. So gilt es, sich bei jedem Telefonat an ein anderes Skript in der speziellen Telefonsoftware zu halten. Der Name ‹Espas› fällt nie.

 

Zuletzt führt der Rundgang durch die Logistikabteilung. Auf vier Hallen verteilen sich die Sortimente kleiner und grösserer Onlineshops, die Stahlregale sind mit Kisten gefüllt, in denen die verschiedensten Objekte reihenweise nebeneinander aufgestellt sind. Im hinteren Teil der kleinsten Halle stapeln sich Plakate einer Recycling-Kampagne, gegenüber stehen zwei bis oben mit Haarextensions beladene Regale neben den Artikeln eines Onlineshops für Babybedarf. Seit Beginn der Pandemie haben sich viele kleine, lokale Shops in den Logistikhallen der ‹Espas› eingemietet, erklärt Benjamin Gsell. Für diese eröffnen sich Vorteile, die bei den grossen Logistikunternehmen schwierig realisierbar sind – etwa individuelle Verpackungsmöglichkeiten oder persönliche Nachrichten. Es fällt auf, dass inmitten der Lagerhallen Dutzende Arbeitsplätze stehen, die grösstenteils nicht besetzt sind. Benjamin Gsell betont, dass das nicht immer so ist. Die meisten Menschen bei ‹Espas› arbeiten teilzeitlich und weisen bedingt durch ihre gesundheitliche Situation öfters als gesunde MitarbeiterInnen im ersten Arbeitsmarkt Absenzen auf: «Das führt durchaus manchmal zu Stress, wenn die Hälfte der Belegschaft plötzlich fehlt, aber auch zu einem interessanten Arbeitsalltag, der von allen viel Flexibilität voraussetzt.»

 

Prozessoptimierung?

Aufgrund der Erwerbsbeeinträchtigung der Mitarbeitenden ist man sich dieser Unberechenbarkeiten völlig bewusst und kann sie einplanen. In Anbetracht, dass sich die ‹Espas› in ihrer Arbeit stets mit den branchenüblichen Standards vergleicht, zeigt sich beispielsweise bei den Löhnen aber durchaus ein Defizit auf Arbeitnehmerseite: Der Leistungslohn wird von Rita Durschei bei ähnlichen Institutionen – und wohl auch bei der ‹Espas› – auf ca. drei bis acht Franken geschätzt, was doch ein sehr tiefer Lohn ist, wenn auch zusätzlich zur IV-Rente. Es sei aber auch nicht im Sinne des Sozialunternehmens, die Angestellten mit Erwerbsbeeinträchtigung ewig zu halten. Das Ziel sei die individuelle Arbeitsintegration, die es den Einzelnen ermöglicht, ganz oder teilweise wieder im ersten Arbeitsmarkt tätig zu sein, so Rita Durschei.

Wenn von einem ‹normalen› Arbeitsplatz gesprochen wird, wären branchenübliche Löhne nicht mindestens wünschenswert? Rita Durschei erklärt, dass Menschen, denen eine Rente zugesprochen worden ist und die auf ein angepasstes Arbeitsumfeld angewiesen sind, nicht die gleiche Leistung erbringen und deshalb auch nicht einen branchenüblichen Lohn erzielen können. «Vielleicht sorgen die flexiblen Renten dafür, dass die zuständigen Behörden diese Frage neu diskutieren. Unser Fokus liegt darauf, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die es möglichst vielen Beschäftigten ermöglicht, sich optimal an der Arbeit zu beteiligen. Denn der Stolz auf die geleistete Arbeit und das Gefühl, beteiligt und nicht ausgeschlossen zu sein, sind Grundpfeiler für die nächsten Schritte Richtung Integration.» Diese Arbeitsbedingungen allerdings sind weitestgehend stark zugunsten der ArbeitnehmerInnen ausgelegt. So wird beim Rundgang durch das Haus klar: Die ‹Espas› versucht inmitten eines kompetitiven Umfelds ein möglichst druckfreies, wenig leistungsorientiertes Arbeitsklima zu schaffen und das Individuum und dessen Wohlbefinden ins Zentrum zu rücken – davon ist man bei anderen Unternehmen zum Teil weit entfernt.

 

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