Hope fight love – 150 Jahre Clara Ragaz

Zum 150. Geburtstag der Pazifistin, Feministin und Sozialistin Clara Ragaz hat die Zeitschrift ‹Neue Wege› zusammen mit der Offenen Kirche St. Jakob zu einem dreitägigen ‹Festival› unter dem Motto «Hoffen Kämpfen Lieben» eingeladen. Es ging dabei nicht nur um die eindrückliche Biographie der Geehrten, sondern vor allem auch darum, sie als Impulsgeberin für die Herausforderungen von Heute zu verstehen.
Die Wahrnehmung von Clara Ragaz-Nadig (1874-1957) stand jahrzehntelang im Schatten ihres Ehemannes Leonhard. (Bild: unbekannt/Sozialarchiv, Signatur F 5160-Fb-040)
Zum 150. Geburtstag der Pazifistin, Feministin und Sozialistin Clara Ragaz hat die Zeitschrift ‹Neue Wege› zusammen mit der Offenen Kirche St. Jakob zu einem dreitägigen ‹Festival› unter dem Motto «Hoffen Kämpfen Lieben» eingeladen. Es ging dabei nicht nur um die eindrückliche Biographie der Geehrten, sondern vor allem auch darum, sie als Impulsgeberin für die Herausforderungen von Heute zu verstehen.

Die Wahrnehmung von Clara Ragaz stand jahrzehntelang im Schatten ihres Ehemannes, des Theologen und Mitgründers der Bewegung der religiösen Sozialisten, Leonhard Ragaz. Von ihm liegt ein enormer politischer und theologischer Nachlass vor.

Die wenigen Dokumente von Clara deuten aber darauf hin, dass in entscheidenden Wendungen im Leben der beiden Ragaz sie die eigentliche Impulsgeberin war: Clara war Pazifistin, als Leonhard noch als Feldprediger amtete; 1913, nach den Erfahrungen des Zürcher Generalstreiks, war sie es, die vor ihrem Mann in die SP eintrat; die Idee, vom Zürichberg «hinunter ins Arbeiterviertel» zu ziehen und hier ein «Settlement» aufzubauen – das Gemeinschafts- und Bildungshaus Gartenhof – baut auf Claras Erfahrungen im Austausch mit den Pionierinnen der internationalen Settlement-Bewegung auf.

Die kritische Sozialarbeiterin

Als die beiden Ragaz 1908 nach Zürich kommen – Leonhard tritt eine Professur an – engagiert sich Clara für Verbesserungen der prekären Arbeitsverhältnisse der  Heimarbeiter:innen; sie hilft mit am Aufbau der «Sozialen Käuferliga»: Aus heutiger Sicht ein ‹Label›, das die Käufer:innen dazu bringen soll, bei der Wahl von Produkten die Arbeitsbedingungen der Produzent:innen zu berücksichtigen. Mit Erfolg: Es können wichtige Verbesserungen erreicht werden.

Mentona Moser holt Clara an die von ihr gegründete «Soziale Frauenschule Zürich», Vorläuferin der heutigen Schulen für Soziale Arbeit. Die beiden Frauen sind aber überzeugt, Soziale Arbeit dürfe sich nicht nur auf Hilfe in Notlagen beschränken, sondern müsse sich «für eine Gesellschaftsordnung einsetzen, die die Möglichkeit ausschaltet, dass einzelne Menschen darben müssen, während  andere ohne ihr Zutun im Überfluss leben.» Am Festival nahm in einem Workshop eine Gassenarbeiterin diesen Gedanken auf und forderte, Soziale Arbeit dürfe sich nicht aufs reagieren beschränken, sondern müsse «systemkritisch sein». Dies sei – so die ehemalige Sozialamtsvorsteherin Monika Stocker dazu – allerdings eher in einer NGO möglich als in staatlichen In­stitutionen.

Die kritische Sozialistin

In ihrer Rede am internationalen Frauentag 1919 in der Kirche St. Jakob mit dem Titel «Die Revolution der Frau» bezieht Clara klar Position: «Der Sozialismus will eine vollkommene Umgestaltung unserer Wirtschafts- und  Gesellschaftsordnung. Wir wollen eine neue Welt schaffen. Diese neue Welt kann sich nur in dem Masse aufbauen, als die alte niedergerissen ist.» Clara warnt: Der Kampf wird hart sein, «kaltherzige Berechnung» auf Seiten der Reaktion, «wilde Leidenschaft» auf der revolutionären Seite. «Revolution» ist in den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg ein Hoffnungs-Wort, die Überwindung der Klassengesellschaft für Clara eine Notwendigkeit. In einem Festival-Workshop wird kritisch festgestellt, dass mit dem Klassenbegriff die Verantwortung des «Systems» klar benennt wird, während heute mehrheitlich von «Schichten» oder «Milieus» gesprochen und so das Grundübel, der Kapitalismus, verschleiert werde. Allerdings stellt Clara in ihrer Rede an der Frauenstimmrechtstagung 1915, mitten im Krieg, fest: «Ein Sozialismus, der nur die Herrschaft und Gewalt einer Klasse anstrebt, kann nicht den Anspruch erheben, wirklich Friedensbringer zu sein.»

An anderer Stelle warnt sie vor «Revolutionären, die nur noch ihrem eigenen Willen folgen und diesen andern als Joch auferlegen und damit neue Unterdrückung schaffen.» Sie teilt damit die Haltung ihres Zeitgenossen und Quartiernachbarn, dem Armenarzt und Anarchisten Fritz Brupbacher, der «die Diktatur des Proletariats  unterstützt, aber nicht die Diktatur einer Partei, weil so aus Parteibonzen Diktatoren werden.» Wie recht haben die beiden, wenn wir an die Zeit des «Grossen Terrors» unter Stalin oder an die Lage heute in Nicaragua denken.

Die kritische Pazifistin, die kritische Feministin

1915 gründet Clara mit Weggenossinnen das Schweizerische Komitee für dauernden Frieden, das sich der «Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit» (IFFF) anschliesst. Clara wird Delegierte des Schweizer Zweigs, 1929 Copräsidentin dieses weltweiten Frauen-Netzwerkes für Frieden und Gerechtigkeit. Am internationalen Kongress in Zürich 1919 wird ein «Frauen-Generalstreik gegen den Krieg» und die «Gleichstellung der Frauen in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Beziehung» gefordert, Forderungen, die ein halbes Jahrhundert später in der Schweiz immer noch hochaktuell sind: erster Frauenstreik 1991, Frauenstimmrecht 1971.

Clara widerspricht aber der Behauptung, wenn die Frauen mitbestimmt hätten, wäre es nicht zum Krieg gekommen, Frauen seien vom Geschlecht her Pazifistinnen. Clara erinnert daran, Frauen hätten sich 1914 genau so von der Kriegsbegeisterung hinreissen lassen wie Männer. Punkto Pazifismus nimmt Clara 1936, in der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs,  Abschied vom absoluten Pazifismus: Der Kampf gegen Faschismus müsse auch mit Waffen geführt werden, wir sind «gegen einen Zuschauerpazifismus». So wie zum Sozialismus stellt sie sich auch zu Pazifismus und Feminismus: «Eine Frauenbewegung, die nur Frauenrechte will, eine Friedensbewegung, die nur auf die Abschaffung des Krieges, nicht aber seiner tiefen Ursachen hinarbeitet, können nicht den Anspruch erheben, Friedensbringer zu sein.»        

Hope fight love 

Das Motto der Tagung war treffend: Auch in hoffnungslosen Zeiten darf die Hoffnung nicht sterben, braucht es Überzeugung und Mut zum Kämpfen und trotz «wilder Leidenschaft» kritisches Denken um den Kampf im Zeichen der Liebe und nicht der Gewalt zu führen.  Solche differenzierte Positionen einer engagierten Kämpferin in einer klaren, heute noch aktuellen Sprache ohne jedes frömmlerische Pathos haben die rund 700 Teilnehmer:innen beeindruckt und angeregt zum Denken und Handeln in schwierigen Zeiten. 

Verein Solidara

Am Rande der Tagung gab ein empörender Antrag der Stadtzürcher Diakoniekommission an das Kirchenparlament betreffend den Verein Solidara zu reden. Dieser Verein – früher «Stadtmission» – führt das Cafe Yucca für Obdachlose und die Isla Victoria, Beratungsstelle für Sexarbeitende. Die Diakoniekommission stellt dem Kirchenparlament  den Antrag, die Finanzierung dieser Projekte ab 2027 einzustellen, weil der Verein den Begriff «christlich» nicht mehr im Leitbild führe, sondern sein Handeln als «interreligiös und solidarisch» bezeichne. Die Teilnehmer:innen des Clara-Ragaz-Festivals sind konsterniert von einem solchen Etiketten-Christentum und fordern mit einer von über 100 Personen unterzeichneten Petition das Parlament auf, die Projekte von Solidara unverändert weiter zu finanzieren und dem frömmlerischen Fundamentalismus entgegenzutreten.
Hannes Lindenmeyer