Höherer Blödsinn

Ich arbeite in einem Beruf, in dem Erfahrung von grossem Wert ist. Das Schulsystem mit seinen vielen Verwaltungsebenen, Spezialaufgaben und einem immer komplexeren Angebot ist am Anfang kaum zu durchschauen. Mit der Zeit hat eine Lehrperson aber die meisten Spezialfälle einmal durch, betreut eine Auswahl gleich bleibender Ämtli, und das fortschreitende Lebensalter, die zunehmende Reife und evtl. Altersweisheit oder sogar -milde helfen mit bei der Bewältigung der anspruchsvollen zwischenmenschlichen Arbeit.

 

Dass solche Erfahrung ein wertvoller Schatz ist, weiss man im Bildungswesen auch, und diese Ressource wird folglich systematisch angezapft. In der Ausbildung von Quereinsteigern etwa müssen die KandidatInnen von Anfang an neben dem Teilzeit-Studium ein Teilpensum unterrichten, für 80 Prozent des Einstiegslohns. Ohne jede Lehrerfahrung wären sie trotz fachlich brauchbarer Vorbildung aufgeschmissen – also werden ihnen erfahrene Lehrpersonen beiseite gestellt, die ihnen gegen ein geringes Entgelt den Schulalltag entschlüsseln. Trotz bestem Bemühen reicht das aber selten aus. Die Praxislehrperson arbeitet vielleicht Teilzeit, hat andere Schwerpunkte als ihr Zögling oder unterrichtet nicht die gleiche Stufe. Da sind die Neuen um jede Hilfe aus dem übrigen Kollegium froh. Und diese ist dann für das Bildungswesen gratis. Es braucht keinen besonders bösen Willen, um in diesem System eine Sparübung zu vermuten: Die Arbeit wird für 80 Prozent des Lohns plus eine kleine Gebühr erledigt, die Mehrarbeit kostenlos auf das Kollektiv verteilt.

 

Da ist es doch erstaunlich, wie wenig die Erfahrung andernorts im Schulwesen gilt – dann nämlich, wenn es um die Äquivalenz der Berufserfahrung mit einem fehlenden Zertifikat geht. Ich höre immer wieder, dass Lehrpersonen kurz vor der Pensionierung, also mit vielen Jahren Praxis, die Unterrichtserlaubnis entzogen oder der Lohn gekürzt wird, wenn sie ihr Lehrdiplom nicht upgraden. Dabei sind es nicht etwa Klempner und Serviertöchter, die in der Volksschule wüten, sondern z.B. Gymi-Lehrpersonen, die Sekundar unterrichten. Für diese ist das doppelt und dreifach herb: Ihr Erfahrungswissen wird völlig entwertet; das neue Wissen werden sie nur noch wenige Jahre brauchen; und just vor der Pensionierung, wenn man die Pensionskasse füllen möchte, muss man zurück auf Feld eins und wie eine Studentin mit einem Teilzeitlohn und einer zu hohen Arbeitslast kutschieren. Denn weder das Unterrichten noch das Studium können in der nominellen Stundenzahl abgehakt werden. Altersgebrechen befallen aber auch Lehrpersonen, und hier nimmt man ihnen die Möglichkeit, abnehmende Fitness mit zunehmender Erfahrung zu kompensieren. (Unnötig zu sagen, dass es oft Mütter sind, die wegen Familienpflichten nie Zeit hatten, ein passenderes Diplom nachzuerwerben.)

 

Im Arbeitsalltag schliesslich zählt das pädagogische Handeln viel mehr als die Aktualität des Fachwissens oder die Modernität der Didaktik. Der Quereinsteiger kann genau dies, woran seine Leistung gemessen wird, noch gar nicht bieten. Die ältere Lehrerin jedoch hat ihr pädagogisches Können längst bewiesen; sie hat es einfach drauf – sonst wäre sie längst ausgemustert worden oder zusammengebrochen. Kann das zürcherische Bildungswesen es sich wirklich leisten, dieses Erfahrungswissen mit Füssen zu treten? Der chronische Lehrermangel sagt etwas anderes…

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