- Stromgesetz
Höchste Zeit, den Fuss vom Bremspedal zu nehmen
Das Stromgesetz scheint auf gutem Weg – das jedenfalls legt die Medienmitteilung des Politik- und Kommunikationsforschungsinstituts GFS Bern vom letzten Freitag nahe. gfs.bern hat die 1. SRG-Trendumfrage zur eidgenössischen Abstimmung vom 9. Juni durchgeführt und schreibt, «wäre bereits am 19. April 2024 abgestimmt worden, wäre das Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung (…) angenommen worden». 46 Prozent der Befragten sagten, sie seien «bestimmt», 29 Prozent «eher» dafür. Elf Prozent waren «bestimmt», acht Prozent «eher» dagegen und sechs Prozent haben sich noch nicht entschieden oder gaben keine Antwort. Macht 75 Prozent, die «bestimmt» oder «eher» Ja sagen wollen – auf den ersten Blick ein komfortabler Vorsprung.
Doch in ihrer ebenfalls am letzten Freitag verschickten Medienmitteilung warnt die Schweizerische Energie-Stiftung (SES), es brauche nach wie vor «das volle Engagement für ein Ja am 9. Juni». Nationalrätin Nadine Masshardt, Präsidentin der SES und SP-Nationalrätin, wird wie folgt zitiert: «Gewonnen ist noch nichts. Seit dieser Woche hängen die ersten Plakate der Nein-Kampagne, die versucht, mit zwielichtigen Argumenten Unsicherheit zu schüren.»
Landschaftsschutz und Mitspracherecht
Bevor wir zu den «zwielichtigen Argumenten» kommen, hier eine kurze Zusammenfassung dessen, worum es bei dieser Abstimmung geht (die ausführliche Version findet sich im P.S. vom 12. April bzw. hier): Das Stromgesetz soll den raschen Ausbau der erneuerbaren Energien, insbesondere der Solarenergie, ermöglichen. Über 80 Prozent der Anlagen werden dabei auf Gebäuden und bestehender Infrastruktur entstehen. Etwas grundlegend Neues passiert damit nicht. Daran wird auf der Abstimmungs-Webseite des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation Uvek im Faktenblatt «Natur und Landschaft» erinnert: Die Stimmbevölkerung hat dem Ausbau der Produktion von Strom aus erneuerbaren Energien in der Schweiz bereits 2017 mit der ‹Energiestrategie 2050› zugestimmt. «Seither sind die Kantone verpflichtet, in ihren Richtplänen Gebiete festzulegen, die für Wasser- oder Windkraftanlagen geeignet sind», heisst es weiter, und: «Neu sollen die Kantone in ihren Richtplänen auch geeignete Gebiete für grosse Solaranlagen von nationalem Interesse festlegen. Sie müssen dabei die Interessen des Landschafts- und Biotopschutzes und der Walderhaltung sowie die Interessen der Landwirtschaft (…) berücksichtigen.»
Im Faktenblatt «Mitsprache- und Beschwerdemöglichkeiten» steht zudem, «die demokratischen Mitspracherechte der Bevölkerung auf kantonaler und kommunaler Ebene bleiben mit der Vorlage bestehen. Abstimmungen zu konreten Projekten sind weiter möglich». Solar- und Windkraftanlagen in geeigneten Gebieten müssen sämtliche Planungs- und Bewilligungsverfahren durchlaufen: «Auch wenn das Interesse an der Stromproduktion grundsätzlich vorgeht, müssen Behörden und Gerichte prüfen, ob nicht doch das Interesse am Natur- und Landschaftsschutz so gewichtig ist, dass es im Einzelfall überwiegt.»
9000 Windturbinen – oder 200?
Und damit zu den «zwielichtigen Argumenten»: In der ‹Schweizerischen Gewerbezeitung› vom vergangenen 5. April findet sich ein Beitrag von SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher. Unter dem Titel «Das Stromgesetz: Wenig Strom für hohe Kosten!» hält sie fest, die im Gesetz vorgeschriebene Strommenge solle «zu 90 Prozent von grossen Solar- und Windkraftwerken» kommen: «Es müssen dafür nun 9000 Windturbinen gebaut oder Solaranlagen auf einer Fläche fünfmal so gross wie der Zürichsee installiert werden!» Martullo-Blochers Parteikollege, Bundesrat Albert Rösti, spricht übrigens von etwa 200 Windrädern. Egal: Im Kanton Zürich, fährt Martullo-Blocher fort, würden 120 Windräder entstehen. Ja mehr noch: «Die Kantone Luzern, St. Gallen und Zürich zusammen planen bereits über 80 Windparks. Naherholungsgebiete, die Alpen, Wälder und Nutzflächen werden vollgepflastert.»
Zumindest im Kanton Zürich ist zwar noch kein einziges Windrad geplant (siehe auch P.S. vom 2. Februar), denn der Bau eines Windrads wäre nur in einem entsprechenden Eignungsgebiet möglich, das im Richtplan als solches ausgewiesen sein müsste (siehe oben). Im Kanton Zürich gibt es aber noch keine solchen Eignungsgebiete, und das aus einem einfachen Grund: Das Richtplanverfahren hat noch gar nicht begonnen. Wie Nationalrätin Martullo-Blocher zu ihrer Aussage – und auf Kosten von «über 100 Millarden Franken» – kommt, was «Mehrkosten von über 11 000 Franken pro Person für Strom bedeutet!», bleibt ihr Geheimnis. Hauptsache, die Botschaft hinter den Schockzahlen kommt an: Wer keine Windräder will, muss SVP wählen!
Auf der Webseite https://stromgesetznein.ch/ finden sich Links zu vier Nein-Kampagen-Seiten. Bei jenen der Fondation Franz Weber und der SVP ist der Absender klar, bei den anderen beiden – «Naturkomitee gegen Stromgesetz» und «Allianz-Stromgesetz» – finden sich Hinweise auf den jeweiligen Webseiten. Im Naturkomitee versammeln sich die Windkraftgegner:innen, im Impressum ist der Präsident von Freie Landschaft Schweiz, Elias Vogt, aufgeführt. Die Allianz-Stromgesetz besteht aus Ingenieuren aus verschiedenen Kantonen. Einer von ihnen ist der Zürcher SVP-Gemeinderat Johann Widmer. Er erklärt auf Anfrage, die Mitglieder der Allianz seien gegen das Stromgesetz, weil es «viele Mängel» habe. Auf der Webseite sind fünf Punkte hervorgehoben, unter anderem, dass ein Ja zu einem «massiven Netzausbau und einer höheren Stromrechnung» führen würde oder dass kommunizierende Smart-Meter eingeführt und künftig Haushaltsgeräte sowie Solaranlagen «ferngesteuert» würden. Und warum macht Johann Widmer nicht einfach bei der SVP-Kampagne gegen das Gesetz mit? Ganz einfach: «Es kann nicht schaden, von mehreren Seiten her gegen dieses schlechte Gesetz vorzugehen.»
Paradox, aber wahr
Und das geht so: Die SVP drohte im Parlament mit dem Referendum, falls es Pflicht werde, künftig bei Neubauten und umfassenden Dachsanierungen Solarpanels zu montieren. Diese allgemeine Pflicht wurde fallengelassen. Lediglich bei Neubauten mit einer Fläche von mindestens 300 Quadratmetern sollen künftig Panels installiert werden müssen. Diese Regelung galt allerdings bisher schon, wenn auch nur befristet. Und was schreibt die SVP auf ihrer Kampagnen-Webseite? «Solar- und Windkraftzwang? Stromgesetz Nein!» Auf der Startseite des Naturkomitees prangt der Slogan, «Auf die Dächer, nicht in die Natur!» Im Gesetz steht, die Panels sollten hauptsächlich auf bestehenden Infrastrukturen installiert werden. Also auch auf Dächern – und ohne allgemeinen Zwang. Kurz: Weil im Gesetz steht, was sie fordern, sind Naturkomitee und SVP dagegen.
Auf der Webseite der Fondation Franz Weber wird behauptet, neue Energieanlagen würden «grundsätzlich Vorrang erhalten», und die Güterabwägung zwischen Natur- und Landschaftsschutz sowie Energieproduktion werde «fallengelassen zugunsten eines blinden Bauwahns». Zur Erinnerung: Auch Solar- und Windkraftanlagen in geeigneten Gebieten müssen sämtliche Planungs- und Bewilligungsverfahren durchlaufen. Die 16 Wasserkraftprojekte, auf die sich der «Runde Tisch Wasserkraft» geeinigt hat, brauchen nach wie vor eine Konzession, und an den demokratischen Mitsprachemöglichkeiten, die mit dem Erteilen einer solchen verbunden sind, ändert sich nichts.
Das einzige, was sich mit einem Ja am 9. Juni garantiert ändert, ist dies: Es geht endlich vorwärts mit der Umsetzung der Energiestrategie 2050, über die wir vor vollen sieben Jahren abgestimmt haben. Natürlich ist es einfacher, auf die Bremse zu stehen als anzupacken. Aber irgendwann müssen wir uns einen Ruck geben. Wenn es uns gelingt, bevor es zu spät ist, haben alle etwas davon.