Hilfe

 

Früher, noch in Bern, wurde ich an Abstimmungssonntagen gelegentlich als Stimmenzählerin aufgeboten. Und immer war da dieser eine Zettel, fein säuberlich mit Schreibmaschine ausgefüllt. Seit Jahrzehnten sei das so, sagten die, die schon lange dabei waren. Regelmässig gebe es diesen einen Mann mit dem getippten Blatt, das ebenso regelmässig auf dem Bigeli mit den ungültigen Stimmen landete (dass es ein Mann war, waren sich alle sicher, der habe das nämlich schon vor der Einführung des Frauenstimmrechts so gemacht). Vielleicht hatte ihm einmal ein Lehrer gesagt, er habe eine ganz fürchterliche Sauschrift, worauf er wohl beschloss, für wichtige Sachen die Schreibmaschine zu nehmen.

 

Jahre später, als meine Grossmutter im gleichen Dorf im Altersheim wohnte, gab es einen Mann, der auf dem immer gleichen Stuhl in der gleichen Ecke in der Cafeteria sass und nichts sagte ausser diesem einen Wort: Hilfe. Alle paar Sekunden. Hilfe, Hilfe.

Für mich war augenblicklich klar, dass es sich um ein und denselben Mann handeln musste. Der mit der Schreibmaschine und der dort, der Hilfe rief.

 

Ich stellte mir vor, dass einmal an der Urne ein Gemeindemitarbeiter verbotenerweise zwischen das gefaltete Papier schaute, bevor er es stempelte. Und sah, dass es dieses war, dieses getippte, seit Jahren und Jahrzehnten ungültige Blatt. Später, so dachte ich, sah er diesen Mann wieder, sagen wir im ‹Bären›. Er sass dort beim Bier nach dem Feierabend und der Gemeindemitarbeiter setzte sich zu ihm, sprach zuerst Belangloses und kam dann zum Punkt. Er habe gesehen, zufällig natürlich, dass er seinen Stimmzettel mit Schreibmaschine ausfülle. Einfach dass er es wisse, das sei ungültig. Ja, das sei das Gesetz, man müsse das unbedingt von Hand machen, sonst dürfe man es nicht zählen.

Ich denke, der Mann verstummte genau in diesem Moment, vor dem halben Bier, auf der Holzbank im ‹Bären› unter der Vitrine mit den Pokalen des örtlichen Blatzgervereins. Verstummte, als ihm bewusst wurde, dass er nie gezählt hat. Dass er immer falsch lag. Verstummte sozusagen symbolisch, wie er ja auch als Wähler schon längst verstummt war, ohne dass er es je gewusst hätte. Hilfe, wird er gesagt haben und dabei blieb es.

 

Diese Geschichte verfolgt mich seither in unterschiedlichen Variationen. Eine ältere, durchaus liebenswürdige Dame, erklärte mir einmal am Stand, warum sie nicht SP wählen könne. Sie finde diese Hetze gegen Ausländer schlimm. Sie habe jahrelang mit ihnen gearbeitet und könnte über keinen einzigen etwas Schlechtes sagen. Und auch das mit den Steuern. Die SP wolle sie ja dauernd senken, als ob wir uns das leisten könnten, man müsse doch unsere Schulen zahlen, die Spitäler. Ich habe mich nicht mehr getraut, ihr unsere Wahlzeitung in die Hand zu drücken, aus Angst, sie könnte sie lesen, sehen, dass auch sie seit je falsch lag, um dann ebenfalls zu verstummen.

Ich albträume manchmal von der finalen Wahlkampagne der SVP. Der Kampagne, die sie machen wird, wenn sie die Schweiz nach ihrem Gusto umgekrempelt hat. Wenn die Grenzen dicht sind. Wenn auch die aus der dritten Generation wieder zurückmussten. Die Frauen am Herd. Die Stadt Zürich ein einziger, grosser Parkplatz. Wenn wir vor lauter Souveränität gemeinsam ein bisschen hungern, weil keiner mehr mit uns handelt. Wenn endlich alle Verträge mit dem Ausland gekündigt sind, inklusive Menschenrechte.

 

Dann, stelle ich mir vor, dann wird die SVP eine Kampagne machen, die umfassender, flächendeckender, durchdringender ist denn je. Und auf allen Inseraten und Plakaten prangt über der traurigen Sonne unten rechts ein einziges Wort in schwarzen Lettern: Hilfe.

Lasst uns wählen gehen, ja? Lasst uns jede Stimme finden und an die Urnen bringen. Denn ‹Hilfe› wäre ein unwürdiges Ende unserer Demokratie, unseres Rechtsstaates, unseres Landes.

 

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.