Heuchelei

Jürgen Klopp hat nicht nur ein bemerkenswertes Gebiss. Er ist auch ein Mann kerniger Schlagfertigkeit. Man soll jetzt nicht so tun, sagte der bekannte deutsche Fussballtrainer, die Spieler seien nicht in der Verantwortung, ein Zeichen gegen Katar zu setzen und überhaupt sei das jetzt zu spät, man hätte, wenn schon, damals bei der Vergabe des Austragungsortes etwas sagen müssen. 

 

Ich hatte ein ungutes Gefühl, aber ich fand es nicht nur falsch. 

 

Auf den ersten Blick ist es nachvollziehbar. Im Jahr der Fussball-WM scheint es in der Tat reichlich knapp für Protest. Alles ist gebaut, die Menschen, die dafür geschuftet haben, tot. Wie viele genau es waren, weiss man zwar nicht. Laut FIFA sind «drei Arbeiter explizit» beim Stadionbau gestorben. Auch ziemlich explizit zeigen Recherchen der britischen Tageszeitung The Guardian, dass über 6500 ArbeitsmigrantInnen aufgrund der Arbeitsbedingungen bei Bauarbeiten für die WM in Katar umgekommen sind. Was genau soll ihnen jetzt ein Protest bringen, ob er nun auf oder neben dem Platz stattfindet? Ein Aufschrei im Jahr 2010, als der zerknirschte Sepp Blatter den Zettel «Katar» aus dem Umschlag zog, hätte den ArbeiterInnen vielleicht erspart, bei der tödlichen Hitze von über 50 Grad auf den Baustellen zu sterben. Aber da war nichts, sagt Klopp. Und jetzt sei es zu spät und eine Heuchelei.  

 

Es gilt als sicher, dass die WM in Katar gekauft ist. Wie sonst, wenn nicht durch Geld und Gier, obsiegt ein Land, das im Sommer so heiss ist, dass niemand jemals draussen ist. Fussball spielen in der süttigen Wüstenhitze ist eine abenteuerliche Idee. Menschen überleben das nicht. Weder auf Baugerüsten noch auf dem Fussballplatz. Dass in Katar Homosexualität verboten ist, keine Meinungs- oder Versammlungsfreiheit gilt oder Frauen unterdrückt werden, kommt noch dazu. Verglichen mit all dem ist es auch nicht besonders überraschend, dass die katarische Frauenfussballmannschaft (Förderung des Frauenfussballs ist eine der FIFA-Bedingungen für das Gastland einer WM) ein Jahr vor der Wahl gegründet wurde, im WM-Vergabejahr hochaktiv war, drei Jahre später allerdings spurlos verschwand. 

 

Was mich alles in allem zum unguten Gefühl bringt. Katar ist Katar, aber was war 2018? Da fand die Fussball-WM in Russland statt. Ich weiss jetzt nicht, wie ich das sagen soll, aber inwiefern ist es dort politisch verträglicher mit demokratischen Grundwerten? Und gerade fällt mir noch die letzte Winterolympiade ein, war die nicht in Peking? Hotspot der Menschenrechte, oder?

 

Bei all diesen Anlässen schien mir die Empörung nicht gleich gross. Ich hätte sie mir damals mindestens so stark gewünscht wie heute. Ich bin also nicht ganz bei Klopp und finde es nicht grundsätzlich heuchlerisch, zu skandalisieren. Zudem gab es laute Kritik rund um die Vergabe an Katar, geschwiegen hat vor allem die Fussballwelt, die das System FIFA, das Korruption in einem unverschämt dreisten Ausmass betreibt, einfach machen lässt. 

 

Dass die Verantwortlichen, die der Realität völlig entflogenen Funktionäre, nichts ändern wollen, ist der eigentliche Skandal und vor allem das eigentliche Problem. Katar wird vorbeigehen, die Korruption im Fussball, die Korruption im Sport werden bleiben. Der Protest dagegen sollte niemals enden. 

 

Heuchelei hingegen kann man getrost jenen vorwerfen, die jetzt Fussballfans in die Pflicht nehmen, weil die sich die Spiele anschauen wollen oder auch denen, die Public Viewings aus politischen Gründen verbieten. 

 

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