Halb so wild?

Es entbehrte nicht der Ironie, dass ich ausgerechnet im Stau steckte, als Radio SRF das heurige Motto des Swiss Economic Forums erörterte, also: «Live the Wild. Freiheit, Mut, Vertrauen.» Gerade Autos werden ja gerne als Freiheitsvehikel angepriesen, mit denen man schrankenlos durch die Wildnis brettert. Zur erfolgreichen Werbung gehört es wohl dazu, dass das Positive derart übertrieben wird, dass das Negative glatt unter den Tisch fällt. So erstaunt es niemanden, dass das Werbepublikum sich eher als aktiv Freiheit Erlebende imaginiert denn als Todesopfer im Strassenverkehr.

 

 

Ganz ähnlich muss es wohl der schweizerischen Wirtschaftselite an diesem Forum ergangen sein. Zum Motto befragt, welches wilde Tier sie denn verkörpern würden, verglichen sich nicht wenige UnternehmerInnen mit einer Grosskatze – einem schnellen Gepard etwa oder einem agilen und schlauen Panther, der im richtigen Moment zupackt. Rein zahlenmässig haben wir da natürlich ein Problem. Wer einen Stubentiger hat (freilaufend freilich, also zumindest teilzeit-wild), weiss doch, dass ein einziges Katzenleben von ziemlich vielen Mausopfern alimentiert wird. In der Wildnis gibts halt nicht nur Raubtiere. Ich jedenfalls sehe bei diesem Vergleich die elende Beute (nebst totgefahrenen Katzen) drastisch vor mir.
 

 
Aber am SEF ist wild gut, soviel schien klar. SRF berichtete: «Alte Vorurteile ablegen, nach neuen Spielregeln handeln, sich immer wieder fragen ‹Warum nicht?› – all dies ist im Wirtschaftsleben gefragt. … ‹Live the wild›. Eine Aufforderung, wild zu leben.» Und fragt einige TeilnehmerInnen: «Sind Sie schon wild, oder arbeiten Sie noch daran?» Den Befragten schien die feine Ironie der Frage zu entgehen. Sie antworteten treuherzig: «Man muss neue Grenzen ausloten. Man muss Tradiertes über Bord werfen, und man muss neue Wege probieren, und das kann man nur, wenn man eine gewisse Wildheit hat», oder: «Ich bin schon wild als Chefin in meinem Job … in einem ganz unkonventionellen Umfeld als Frau», und: «Ich glaube, man ist nie wild genug.» Da wüsste unsereine bigoscht gerne, woher nun plötzlich dieses Reissen nach der Wildnis hereinbricht – und wozu eigentlich? Vielleicht hilft der Untertitel weiter, eben: «Freiheit. Mut. Vertrauen.» Bedeutungsgeladene Parolen, wild kombiniert. «Sind die Chefs zu wenig mutig?», wird Dominik Isler gefragt, der CEO des SEF. Er meint: «Die Herausforderung der Chefs liegt … in der Schnelligkeit in einer sich rasch verändernden Umwelt. Sie müssen immer schneller entscheiden, um rascher mit neuen Produkten die Bedürfnisse der Kunden zu erfüllen.» Als Verursacher dieser Beschleunigung identifiziert er die Digitalisierung, den Wertewandel und die veränderte Demografie. Aus linker Sicht wurden diese ja ihrerseits direkt von Wirtschaftsinteressen angetrieben. Wildheit als Reaktion auf die selbst verursachte Beschleunigung – hört sich fast so an, als renne die Katze ihrem eigenen Schwanz nach.
 

 
Und wie geht das überhaupt: Wildheit als moralischer Imperativ? Das Überich zum Ich, so: «Werde Es!»? Mir sieht das verdächtig nach einer Kolonisierung letzter Reste von Wildheit aus. Denn der wilde Regelbruch bleibt das Privileg der Mächtigen. So wie jede Deregulierung eigentlich nur eine verkappte Regulierung zugunsten der Stärkeren ist… Ganz wohl wars Isler mit seinem Motto wohl selber nicht; einmal zumindest relativiert er, es gehe nicht darum, dass alle wild würden, sondern: «Man muss in der wilden und unberechenbaren Zeit zurechtkommen.» Fragt sich nur: als Katze oder als Maus?

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