Haar-M. muss umziehen

Der traditionsreiche Perückenladen an der Langstrasse zieht um. Der Kreis 5 verliert damit einen seiner aussergewöhnlichsten Läden.

 

Tobias Urech

 

Betritt man das Geschäft an der Langstrasse 195, taucht man sofort in eine andere Welt ein. Spätestens nach Erklingen der Ladenglocke und nachdem die Tür hinter einem ins Schloss gefallen ist, findet man sich wieder in einem Sammelsurium von Perücken in allen Formen und Farben, entdeckt dutzende Döschen mit bunter Schminke und erfreut sich an allerlei Verkleidungsartikeln. Geprägt ist die ganze Szenerie nicht nur von der Magie der Theaterwelt, sondern auch vom dem Charme der steten Unordnung.

 

«Auch in der Unordnung hat jedes Ding seinen Platz», meint Martin Furrer, Quartieroriginal und Besitzer des Ladens, wo Drag Queens und KarnevalgängerInnen aufeinandertreffen. Deswegen müsse bei ihm auch nicht immer alles aufgeräumt sein. Genau diese unkomplizierte Art ist es, welche die KundInnen von Martin Furrer so schätzen – neben der kompetenten Beratung und der grossen Auswahl natürlich. Nun muss der Laden aber sein angestammtes Lokal verlassen. Die Kündigung ist schon länger bekannt, nun ist es aber definitiv: Haar-M. zieht ab Herbst um in den Kreis 6.

 

Seit 1987 im Quartier

Das traditionsreiche Geschäft hat Martin Furrer von seinem Vater übernommen, der als Maskenbildner arbeitete und Perücken für SchauspielerInnen knüpfte. Bevor der Laden an die Langstrasse zog, verkaufte der Vater die haarigen Kunstwerke am Bellevue. «Heute lohnt es sich allerdings nicht mehr, die Perücken selber zu knüpfen», erklärt Martin Furrer. «Es ist viel zu aufwändig und vor allem auch zu teuer. Die KundInnen sind nicht mehr bereit, über zweitausend Franken für eine Echthaarperücke auszugeben. Stattdessen hat Billigware aus China Hochkonjunktur.»

 

Trotz aller Veränderungen hat der Laden seit 1987 seinen Platz an der Langstrasse und verkauft bis heute Perücken. Martin Furrer selbst wohnt seit über zwanzig Jahren in einer der darüber liegenden Wohnungen. Der Kreis 5 ist sein Zuhause, und er sei eigentlich fast ausschliesslich in diesem Quartier unterwegs.

 

Deswegen sitzt der Schock tief, als im Herbst 2014 die Doppelkündigung ins Haus flattert. Nicht nur aus seiner Wohnung muss er ausziehen, sondern auch seinen Laden im Erdgeschoss aufgeben. Der Grund: Die Besitzerin hat Eigenbedarf angemeldet. Doch so einfach gibt sich Martin Furrer nicht geschlagen. Er schaltet den MieterInnenverband ein und wehrt sich bei der Schlichtungsbehörde gegen die Kündigung. Vertreten von der ehemaligen Verbandspräsidentin und alt SP-Nationalrätin Anita Thanei holen die beiden vor Gericht einen Aufschub von drei Jahren heraus. Martin Furrer muss zwar mitsamt Laden ausziehen, darf sich aber bei der schwierigen Suche nach einem neuen Lokal immerhin ein wenig Zeit lassen. Vor Gericht sei allerdings mit zweifelhaften Argumenten gekämpft worden: «Die Besitzerin der Liegenschaft an der Langstrasse 195 – notabene selbst Richterin – zeigte während der Verhandlung als ‹Beweis› für die Rechtmässigkeit der Kündigung eine Fotografie von meiner Unordnung – dem ‹Puff› im Laden», erzählt Martin Furrer. «Abgesehen davon, dass die Unordnung weder KundInnen abschreckt noch Horden von Ameisen anzieht, ist das noch lange kein rechtlich anerkannter Kündigungsgrund.»Die Anmeldung von Eigenbedarf ist hingegen ein legitimer Kündigungsgrund. Doch was hat die Besitzerin mit dem Ladenlokal vor?  Ihr Sohn, der an der HSG in St. Gallen studiere, eröffne einen Handyhüllenladen, erklärt Martin Furrer. Er lässt sich das Wort auf der Zunge vergehen. Einen Handyhüllenladen. Und das, nachdem ein solcher Laden vor wenigen Jahren ziemlich genau vis-à vis-vom Haar-M. eingegangen sei.Martin Furrer lässt es offen, ob man darin einen Vorwand der Vermieterin sehen möchte, um das Ladenlokal nach einer gewissen Zeit teuer weiterzuvermieten, oder ob deren Sohn wirklich das grosse Geschäft im Handyhüllenmarkt wittert.

 

Projekt «5 im 5i»

Immerhin, Martin Furrer hat nun endlich ein neues bezahlbares Lokal an annehmbarer Lage gefunden. Den Perückenladen findet man ab diesem Herbst im Kreis 6 an der Kornhausstrasse 12, wo momentan die städtische Wohnsiedlung Kronenwiese entsteht. Neben den 99 Wohnungen sind sechs Räume für Gewerbe reserviert, von denen Haar-M. einen beziehen kann.

 

Der fahle Nachgeschmack aber bleibt, schliesslich muss Martin Furrer seinen geliebten Kreis 5 verlassen, der ihm immerhin ein Vierteljahrhundert eine Heimat war. Dass er gerne bleiben möchte, zeigt sich auch bei seinem Engagement für das Projekt «5 im 5i.» Dafür sollen sich die Nachbarschaften des Quartiers zusammenschliessen und gegen das Lädelisterben vorgehen. Im Raum steht die Idee einer Umnutzung des Carparkplatzes am Sihlquai, über dessen Weiterverwendung ja schon viel diskutiert wurde – prüfte doch die Stadt einst die Errichtung eines neuen Kongresszentrums an diesem Standort.

 

«5 im 5i» hingegen präsentiert einen anderen Vorschlag: Statt dass die Fernbusse wie heute oberirdisch abfahren, soll ein unterirdisches Reisezentrum gebaut werden. Darüber würde dann Raum entstehen für eine Wohnsiedlung mit Gewerbe, ähnlich wie die Kalkbreite-Siedlung über dem Tramdepot. Doch dieses Projekt ist momentan noch ein Traum für Martin Furrer; er beschäftigt sich vorerst mit dem anstehenden Umzug.

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