Guter Geschmack

In der Nachmittagshitze flimmernde, totenstille, gottverlassene Bahnhöfe in der Peripherie sind die Schauplätze meiner Jugend. Ich kann nicht mehr sagen, ob ich das Aufwachsen auf dem Land schlimm fand, es war einfach so, die Stadt einigermassen in der Nähe und mit Bus und Zug erreichbar, ich kannte es nicht anders und im Dorf war immerhin gelegentlich auch etwas los. 

Heute stand ich wieder an so einem Bahnhof. Viel zu früh. Die Hitze und meine Müdigkeit zusammen so bleiern und erdrückend wie der Anfang von «Spiel mir das Lied vom Tod», ich glaube, wer nicht im Wilden Westen oder auf dem Land aufgewachsen ist, kann das überhaupt nicht nachvollziehen, das Gefühl dieser Nachmittage mit dem schwermütigen Wind, der doch nichts bringt.

Beinahe wäre ich nun wieder aufs Land zurückgezogen. Nach Jahrzehnten in der Stadt hatte ich, einerseits, eine Sehnsucht. Eine nach Weite, nach Feldern, Wiesen, sanften Hügeln, einem Garten vor der Tür. Ich hatte eine Sehnsucht nach möglichst wenig Menschen. Nach Ruhe. Vor allem wünschte ich mir eine Veränderung, seit ich aus den USA zurück bin, bin ich nie mehr richtig angekommen und wieder weggehen schien mir eine Option. Eine allerdings, die geographisch ziemlich weit entfernt war von meiner Arbeit und der meines Mannes. Zu weit, lautete schliesslich unser Fazit. Deshalb bin ich nun also nur beinahe wieder zurück aufs Land gezogen. 

Abgesehen von der Sehnsucht war da aber, andererseits, noch ein weiterer Grund dafür. Meine Stadt hat keinen Platz mehr für mich. Keine bezahlbaren Platz. Kurz: Wir finden keine Wohnung. Wenn ich selten doch eine sehe, die gross genug wäre, dann ist sie in der Regel «für Kinder nicht geeignet», was übersetzt bedeutet, dass man den damit einhergehenden Lärm und alle anderen Unannehmlichkeiten nicht möchte. Oder sie ist befristet. Normalerweise ist es aber allein schon der Mietzins. Mit durchschnittlich 1000 oder mehr Franken pro Zimmer haben die Vermieter die Grenze des guten Geschmacks längst überschritten. 

Das erinnerte mich alles an den Artikel im ‹Tages-Anzeiger›, der passenderweise am Vortag des 1. Mai erschien. Unter «Luxus in Zürich» wird ein Mann porträtiert, der «weiss, warum man an der Bahnhofstrasse ein Jahr auf eine Tasche wartet». Der «Luxus-Experte» sagt, dass zwei Dinge besonders wichtig seien für Luxusmarken: «Eine glaubwürdige Geschichte rund um den Brand erzählen – und das Angebot verknappen.» Denn was knapp ist, ist begehrenswert. Die beschriebene Begegnung des Experten und des Journalisten mit einer Verkäuferin in einem der Luxusgeschäfte an der Bahnhofstrasse verläuft distanziert. «Die Angestellten hier verkaufen einem nichts, man kauft ihnen etwas ab. Der Kunde steht in einer Art Bringschuld.» Bei der Gesichtscrème für 1800 Franken hält er lapidar fest: «Wir bewegen uns hier in einer Art Fantasiewelt, Luxus ist im Grunde genommen komplett irrational.»

Womit wir wieder bei den Wohnungsmieten in Zürich wären. Sie sind irrational, geschmackslos. Sie sind knapp und natürlich begehrt. Und der Vermieter ist für gewöhnlich ebenfalls der Meinung, der Mieter habe eine Bringschuld. 

Ich weiss, das ist alles längst bekannt. Wir haben zig Vorstösse im Parlament gemacht, Initiativen gesammelt, gewonnen und wieder von vorne begonnen. Aber günstigen Wohnraum für alle zu schaffen dauert, und neu ist, dass ich merke, dass ich auch immer mehr zu denen gehöre, die gemeint sind, wenn wir davon sprechen, wie Menschen aus dem Quartier und der Stadt gedrängt werden. Es ist längst keine Frage mehr des Einkommens, man kann gar nicht soviel verdienen, um mit den Mietpreisen irgendwie mithalten zu können. Die Preise stammen aus einer Fantasiewelt und sind komplett irrational. 

Jetzt hat es mich also auch erwischt. Ich bin raus, stelle ich fest. Ich muss raus. Wohin ist freilich noch nicht klar, denn die ganze Misere ist ja kein exklusiv städtisches Problem mehr. Es ist irgendwie überall so weit, nur dort eben noch nicht ganz, wo die heissen Nachmittage die Bahnhöfe flimmern lassen.