Grundlegender Wandel? 

Ohne Care-Arbeit würde die Gesellschaft stillstehen. Wir müssen uns deshalb die Frage stellen, wie wir sie in Zukunft organisieren und finanzieren möchten. 

 

Roxane Steiger 

Schweizweit klatschten Menschen während des Corona-Lockdowns auf ihren Balkonen für Pflegearbeitende. Die politischen Anläufe, dass auf den Applaus auch bessere Löhne folgen, sind bisher gescheitert. Schweizweit befinden sich Frauen im Homeoffice zusätzlich zur Erwerbsarbeit mit Haushalts- oder Erziehungsarbeit konfrontiert. Applaus gibt es dafür keinen. 

Die Diskussion um die Anerkennung und Wertschätzung von Care-Arbeit reicht in die 1970er-Jahre zurück. Zum Tag der Arbeit möchten wir uns diesen essenziellen Tätigkeiten für Wirtschaft und Gesellschaft widmen. Denn ihre Anerkennung als unverzichtbare Arbeit ist immer noch nicht gegeben. Die Tatsache, dass sie keine Selbstverständlichkeit darstellt, noch weniger. «Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit» ist ein Aufsatz, den zwei Pionierinnen der Frauen- und Geschlechtergeschichte, Barbara Duden und Gisela Bock, im Jahr 1977 publizierten. Darin plädieren sie für eine Reformation des Begriffs «Nächstenliebe» im Kontext von Fürsorgetätigkeiten hin zu «Arbeit». Was hat dieser Paradigmenwechsel an der heutigen Situation von Frauen verändert? 

 

Alte Probleme, neuer Kontext

Heute schreibt Barbara Duden: «Die Belastungen der Frauen in den Haushalten sind nicht weniger, sondern mehr geworden. Jedoch ist es undenkbar, dies öffentlich einzuklagen. Die Hausarbeit ist unsichtbarer denn je. Damals war es Arbeit aus Liebe, heute ist die Logik der Erwerbsarbeit tief in die häusliche Sphäre eingedrungen.» 

In den folgenden Beiträgen zeigen verschiedene GastautorInnen auf, dass Haus- und Versorgungsarbeit heute immer noch ‹Frauensache› ist. In einer Gesellschaft, in der Frauen zurecht selbstbestimmt und ökonomisch unabhängig leben möchten, hat dies verschiedene Entwicklungen zur Folge. Zusätzlich zur Erwerbsarbeit kommt die Hausarbeit hinzu, die Frauen doppelt belastet. Eine weitere Option ist, die Sorge-Arbeit an andere Frauen, oftmals migrantische Arbeitnehmerinnen, zu delegieren. 

Auf der Webseite des eidgenössischen Büros für Gleichstellung von Frau und Mann wird die unzureichende Anerkennung von unbezahlter wie auch bezahlter Care-Arbeit fett hervorgehoben. «Wer unbezahlte Care-Arbeit leistet, ist mit nachteiligen Konsequenzen bei der beruflichen Laufbahn und der sozialen Absicherung konfrontiert», lautet die ernüchternde Realität. «Bezahlte Care-Arbeit steht zunehmend unter Spar- und Rationalisierungsdruck. Eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ist die Folge.»

Wenn ich auf Basis dieser Entwicklungen die Frage beantworten muss, ob sich an der Situation von Frauen etwas verändert hat, bin ich unschlüssig. Zum einen will ich nicht bestreiten, dass sich die Situation zahlreicher Frauen verändert und in vielerlei Hinsicht verbessert hat. Zum anderen glaube ich, dass wir diese Errungenschaften mit Vorsicht geniessen sollten. Denn kein Problem wird gelöst, wenn sich Frauen auf Kosten weniger privilegierter Frauen emanzipieren. Kein Problem wird gelöst, wenn Haus- und Betreuungsarbeit immer noch als weibliches Selbstverständnis gelten. Die Möglichkeiten der Lebens-, Familien- und Arbeitsgestaltung haben sich vervielfältigt. Geschlechterrollen werden zunehmend hinterfragt und neue Verhaltensmuster toleriert. Doch mir scheint es, als ob die grundlegenden Probleme dieselben wie noch vor 50 Jahren sind. Der erforderliche Wandel, um diese zu lösen, kommt nur zögerlich. 

Was braucht es also, um diese Verhältnisse zu ändern? Was heisst das für den Feminismus von heute? Welche Rolle spielen dabei die Männer? Und wie sieht es mit den politischen Rahmenbedingungen aus? 

 

Zukunftsperspektiven

Zu diesen Fragen wollen wir Ihnen mit den folgenden Gastbeiträgen eine Zukunftsperspektive bieten. Es existieren nämlich diverse Lösungsansätze, die zu einem Wertewandel hin zu einer Gesellschaft, die Care-Arbeit mehr Wertschätzung entgegenbringt, beitragen könnten. Dazu müssen wir auch erkennen, wo aktuell die Probleme liegen, die diesen Wandel erschweren. 

Zwei GastautorInnen zeigen die Pro­blematik auf, dass Care-Arbeit in wirtschaftstheoretischem Denken und Handeln als eigenständige analytische Kategorie fehlt. Dadurch wird sie in wirtschafts- oder sozialpolitischen Entscheiden wenig berücksichtigt. Dies wird zum Beispiel bei der kaum und schlecht regulierten Betreuungsarbeit sichtbar. Deshalb werden einheitliche und transparentere Regulierungen für bessere Arbeitsbedingungen in der Betreuungsarbeit vorgestellt. Zudem werden Ungerechtigkeiten in der Altersvorsorge aufgezeigt und welchen Beitrag eine Stärkung der AHV dazu leisten würde. Andere AutorInnen ergründen die politischen Rahmenbedingungen in Bezug zu gerechten Geschlechterverhältnissen in der Schweiz. Sie stellen grossen Nachholbedarf fest – in der Gleichstellungs- als auch in der Familienpolitik. Dazu braucht es unter anderem neue Arbeitszeitmodelle, eine neue Steuergesetzgebung, bezahlbare und flächendeckende Betreuungsangebote sowie neue Wertevorstellungen. 

Die zentrale Frage, an die alle Beiträge anknüpfen, ist, wie wir als Gesellschaft Care-Arbeit finanzieren und organisieren wollen. Denn ohne Care-Arbeit würde unsere Gesellschaft stillstehen. In Zukunft wird sie mehr und nicht weniger werden. Wir müssen sie jedoch gemeinsam neu gestalten.

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