Grundeinkommen: Lieber aus­probieren als bloss diskutieren

Die Idee eines Grundeinkommens lebt: Zurzeit läuft der Endspurt der Unterschriftensammlung für einen wissenschaftlichen Pilotversuch. Wer dahintersteckt und worum genau es geht, erklärt Mitinitiant und SP-Gemeinderat Urs Helfenstein im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Am 5. Juni 2016 sagten lediglich 23,1 Prozent der Stimmenden Ja zur Volksinitiative «für ein bedingungsloses Grundeinkommen». Wie kamen Sie darauf, die Idee wenige Jahre später auf städtischer Ebene erneut zu lancieren?

Urs Helfenstein: Die Vorgeschichte unserer Initiative beginnt tatsächlich mit der Volksabstimmung vom Sommer 2016. Nach der Niederlage an der Urne erhielt ich als Gemeinderat des Wahlkreises 4 & 5 eine E-Mail eines Mannes, der im Kreis 4 wohnte. Er schrieb nicht nur mir, sondern auch anderen ParlamentarierInnen, und schlug vor, in den Kreisen 4 und 5 einen Pilotversuch zum Grundeinkommen zu lancieren: Dieser Wahlkreis hat die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommenim Juni 2016 angenommen, und zwar mit einem Ja-Stimmenanteil von 54,69 Prozent. Ich war offenbar der Einzige, der dem Mann antwortete, und im November 2016 reichten wir auf meine Initiative als SP-Fraktion im Gemeinderat eine Motion für einen Pilotversuch mit dem bedingungslosen Grundeinkommen ein. Der Stadtrat nahm den Vorstoss jedoch lediglich in der unverbindlicheren Form eines Postulats an, und das versandete.

 

Wie ging es weiter?

Die Corona-Pandemie gab der Grundeinkommens-Idee Auftrieb. Der eigentliche Auslöser der aktuellen Initiative war aber das Interview mit Che Wagner, dem Kampagnenleiter der Grundeinkommens-Volksinitiative von 2016, das am 30. April 2020 im P.S. erschien. Nach der Lektüre schrieb ich Che Wagner eine E-Mail, wir trafen uns und tauschten uns aus. Noch vor diesem Treffen waren auch andere aktiv geworden, namentlich etwa Erwin Fässler: Er unterschrieb eine Petition für ein Grundeinkommen, stellte dann aber fest, dass sie von einer Initiative aus Deutschland stammte. Weil er sich eine Grundeinkommens-Diskussion für die Schweiz wünschte, startete er selber eine Online-Petition und sammelte innert kurzer Zeit zehntausende Unterschriften. Daraufhin schrieb auch er diverse ParlamentarierInnen an. Dieses Mal war ich zwar nicht der Einzige, der reagierte, aber die anderen Reagierenden schrieben Herrn Fässler einfach zurück, er solle sich doch direkt an mich wenden.

 

Sie hatten sich zuvor schon als Grundeinkommens-Fan geoutet?

Nein, und ich bin im Gemeinderat auch nicht als Vertreter einer bestimmten Branche unterwegs und war deshalb auf der Suche nach einem Thema, dem ich mich annehmen könnte. Mit der Anfrage aus dem Kreis 4 und der Initiative von Erwin Fässler hat das Thema Grundeinkommen mich gefunden. Der Zufall spielte aber auch noch in anderer Hinsicht mit.

 

Inwiefern?

Zu jener Zeit, also vor rund einem Jahr, wurde die Plattform WeCollect, die Online-Unterschriftensammlungen ermöglicht, neu aufgesetzt: Künftig sollte es möglich sein, nicht nur für nationale Volksinitiativen zu sammeln, sondern auch für kantonale und lokale Vorstösse. Die Initiative für einen wissenschaftlichen Pilotversuch zum Grundeinkommen bot sich als ‹Versuchskaninchen› an. Mit einigen MitstreiterInnen starteten wir unser Projekt. Wir gründeten ein Initiativkomitee, gemeinsam schrieben wir den Initiativtext, und seit dem Sammelstart am 11. November 2020 sind bereits über 3700 Unterschriften zusammengekommen.

 

Benötigt werden bloss 3000 – ich dachte, Sie seien im Sammel-Schlussspurt?

Ja, das sind wir, denn auch wenn wir auf dem Papier bereits genügend Unterschriften haben, sammeln wir weiter. Die Unterschriften werden bei städtischen Initiativen erst nach der Abgabe geprüft, und man muss immer mit einem Anteil ungültiger Unterschriften rechnen. Wir wollen auf der sicheren Seite sein und die Initiative mit möglichst vielen gültigen Unterschriften einreichen.

 

Trotz der klaren Niederlage von 2016 erhält das Thema Grundeinkommen zurzeit viel Beachtung: Weshalb ist das so?

Der Hauptgrund dafür ist nebst der Pandemie, die für viele Menschen einschneidende Veränderungen mit sich brachte, der neue Ansatz, den wir verfolgen: Wir propagieren mit unserer Initiative kein bedingungsloses Grundeinkommen wie die nationale Initiative von 2016. Wir wollen keinen grundlegenden Systemwechsel beliebt machen, sondern uns geht es da­rum, Erkenntnisse zu gewinnen: Ich möchte unter anderem wissen, was ein Grundeinkommen mit den Menschen macht, die es beziehen, wie es allenfalls deren Erwerbstätigkeit beeinflusst und wie es sich finanziell auf die Ausgaben der öffentlichen Hand auswirkt.

 

Was genau passiert, falls die Initiative angenommen wird?

In einem ersten Schritt müsste die Stadt den wissenschaftlichen Pilotversuch ausschreiben, und Hochschulen aus der Schweiz könnten sich bewerben.

 

Welche WissenschaftlerInnen dürfte das Thema hauptsächlich interessieren?

Ich denke vor allem an die Soziologie, die als eines ihrer Forschungsgebiete auch die Wirtschaftssoziologie umfasst. Viele StudentInnen und AssistentInnen, aber auch ProfessorInnen könnten sich mit dem Grundeinkommen befassen, Arbeiten dazu schreiben, sich profilieren – und natürlich bei der Stadt ein Konzept für den wissenschaftlichen Pilotversuch einreichen.

 

Wie stellen Sie sich diesen konkret vor?

Der Versuch müsste mindestens drei Jahre dauern. Eine Gruppe von in Zürich angemeldeten Personen mit Schweizer Bürgerrecht oder Aufenthalts- beziehungsweise Niederlassungsbewilligung würde ein monatlich auszubezahlendes gegenleistungsloses Grundeinkommen bekommen, und zwar aus der Stadtkasse – wobei die Stadt eine vollständige oder teilweise Finanzierung über Drittmittel prüfen könnte. Es würde unabhängig von Vermögen, Einkommen und Erwerbsstatus der TeilnehmerInnen entrichtet. Wie gross diese Gruppe sein müsste, würden die WissenschaftlerInnen bestimmen.

 

Wie hoch soll dieses Grundeinkommen sein?

Im Initiativtext ist festgehalten, dass die monatlich ausbezahlte Summe nicht unter dem in Zürich üblichen Betrag für ein soziales Existenzminimum plus Einkommensfreibetrag beziehungsweise Integrationszulage liegen darf. Das Grundeinkommen dürfte somit zwischen 3500 und 4000 Franken pro Monat betragen. Die Stadt soll den Versuchsteilnehmenden aber auch eine auf dem Einkommen basierende progressive Sondersteuer berechnen. Der Auszahlungsbetrag verringert sich bei diesen Teilnehmenden um diese berechnete Steuer, bis er bei einer noch zu bestimmenden Einkommenshöhe Null erreicht.

 

Es wird demnach eine Gruppe von ZürcherInnen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation ausgewählt und zur Teilnahme am Pilotversuch verknurrt?

Nein, die Teilnahme ist selbstverständlich freiwillig und beruht auf Kooperation. Nebst jenen, die ein Grundeinkommen erhalten, braucht es eine gleich grosse Kon­trollgruppe von Menschen, die in vergleichbaren Verhältnissen leben wie erstere, aber kein Grundeinkommen ausbezahlt bekommen. Auch sie würden nach repräsentativen Kriterien ausgewählt werden, die Teilnahme bleibt jedoch ebenfalls freiwillig und beruht auf Kooperation.

 

Wie viel würde der Pilotversuch die Stadt kosten?

Das kommt darauf an, wie genau er ausgestaltet wird. Ich denke nicht, dass es brutal teuer wird – aber darum geht es ja genau: Niemand weiss heute, wieviel ein Grundeinkommen effektiv kosten würde und wieviel man dadurch andernorts, beispielsweise bei der Sozialhilfe oder der IV, sparen könnte. Genau deshalb braucht es den Versuch. Vielleicht stellt sich dabei he­raus, dass das Grundeinkommen doch nicht so gut funktioniert, wie wir es uns erhoffen, vielleicht stellt es sich aber auch als echter Gewinn heraus. So oder so finde ich es besser, wenn wir nicht bloss im luftleeren Raum Argumente dafür und dagegen austauschen können, sondern aufgrund wissenschaftlich erhobener Daten sehen, was Sache ist.

 

Die Stadt soll zahlen, aber was passiert, wenn ein Teil der Kosten, die möglicherweise eingespart werden können, ursprünglich der Kanton oder der Bund bezahlt hat? Wird das nicht viel zu kompliziert?

Wir reden ja immer noch von einem Pilotversuch, sprich: Wie kompliziert das Ganze wird oder eben nicht, kann man steuern. Wir haben in der Schweiz nun mal ein dreistufiges System und verschiedene Töpfe, aus denen Leistungen ausbezahlt werden. Damit müssen wir immer leben, und deshalb müssen auch die Spielregeln für den Pilotversuch entsprechend festgelegt werden. Ich bin überzeugt, dass die WissenschaftlerInnen eine gute Lösung finden.

 

Das Geld ist nicht das Problem?

Finanzielles lässt sich berechnen und im Rahmen eines Versuchs vorab festlegen, das ist nicht weiter schwierig. Viel interessanter finde ich den soziologischen und psychologischen Teil des Versuchs.

 

Inwiefern?

Vor der Abstimmung zum bedingungslosen Grundeinkommen wurde beispielsweise behauptet, wenn es ein solches Einkommen gäbe, würde niemand mehr zur Arbeit gehen. Ist das wirklich so? Legt dann jede Putzfrau sofort die Beine hoch und lebt ausschliesslich vom Grundeinkommen? Oder reduziert sie vielleicht das Putzen und fängt nebenbei eine Ausbildung an? Wie wirkt sich das Grundeinkommen kurzfristig aus, und wie verändert es das Leben eines Menschen möglicherweise langfristig? Antworten auf solche Fragen gibt es bislang nicht. Eigentlich sollten deshalb alle für unsere Initiative sein, sowohl BefürworterInnen wie auch GegnerInnen eines Grundeinkommens, denn sie erhalten so Belege für ihre Behauptungen – oder dafür, dass sie falsch liegen.

 

Angenommen, der Versuch wird durchgeführt: Was versprechen Sie sich davon?

Wenn die Stadt den Versuch wirklich wagt, wird die halbe Welt auf Zürich aufmerksam, das Interesse dürfte riesig sein. Was das nur schon für den Tourismus und die Standortförderung bedeutete, lässt sich nicht aufwiegen: Es kämen Menschen nach Zürich, um sich den Versuch aus der Nähe anzuschauen, und es gäbe viele Medienberichte. Es entstünden der Stadt somit nicht nur Ausgaben, sondern auch Einnahmen. Aber auch politisch würde ein solcher Versuch sicher zahlreiche bisher inaktive Menschen zum ersten Mal an die Urne bringen, einfach weil sie denken würden: «Hier gibt es etwas zu gewinnen.»

 

Zürich hätte mal wieder die Vorreiterinnenrolle inne?

Warum nicht? Und wenn andere nachziehen, umso besser! Wir haben die Webseite pilotprojekte.ch eingerichtet, um dem Pilotversuch Grundeinkommen eine Plattform zu geben. Dort ermuntern wir andere Städte und Gemeinden, ebenfalls Versuche mit einem Grundeinkommen zu starten. Wir stellen ihnen alles gratis zur Verfügung, unsere Ideen ebenso wie unseren Initiativtext. Bereits sind in den Städten Bern und Luzern entsprechende Projekte aufgegleist, und Bern kann uns möglicherweise gar überholen. Zur Sicherheit haben wir auch noch in den Initiativtext hineingeschrieben, dass Zürich die Kooperation mit anderen Gemeinden suchen solle – frei nach dem Motto «doppelt hält besser».

 

Sie sind demnach zuversichtlich, dass die Initiative und der Pilotversuch zustandekommen?

Die Unterschriften werden am 11. Mai der Stadt übergeben. Beim Pilotversuch bin ich ebenfalls zuversichtlich, denn wird er durchgeführt, gibt es so viel zu gewinnen – vor allem wichtige Erkenntnisse darüber, was ein Grundeinkommen tatsächlich mit den Menschen macht und was eher nicht.

 

Weitere Informationen auf pilotprojekte.ch, Initiative online unterschreiben auf wecollect.ch/projekte/grundeinkommen-initiative-zurich

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