Glücksgefühle

Es gibt in allen darstellenden Künsten Ausnahmekönner, die mit einer grossen Leichtigkeit und Prägnanz Tempo, Form und Inhalt in eine komplett in sich stimmige Form bringen. Im diesjährigen Steps-Programm heisst er Sidi Larbi Cherkaoui.

 

Kunst kann Glücksgefühle hervorrufen. Wenn Tempo und Stillstand in einer Balance stehen, Schabernack und Hintersinn sich inhaltlich nachvollziehbar abwechseln, Formschönheit mit Requisiten wiewohl mit kraftvoller Grazie im Tanz parallel hergestellt werden und einander zuspielen, die Aufmerksamkeit und Spannung für ein Publikum ein Bedürfnis und keine Anstrengung ist, Dauer, Vielfalt und Dramaturgie eine rundes Gesamtkunstwerk abgeben und alles wirkt, als wärs die einfachste Sache der Welt, sowas herzustellen. Das einzige, was einem nach so einem Aha-Erlebnis alias geht doch!-Gedanken zweifeln lässt, ist die Frage, weshalb das im Film, im Theater, im Tanz so selten glückt. Die Freude aber, mal wieder Zeuge einer solchen Brillanz geworden zu sein, überwiegt bei weitem.

Die vier Livemusiker aus Japan, Korea, Indien und Kongo stellen Sound her, der zwischen klassischen Klängen, wummernder Klubmusik und sphärisch überirdischen Tönen changiert – wenn sie zusammen mit den fünf Tänzern in einen Chor einstimmen, wird man an die elektrisierende Wirkung von «Le Mystère de Voix Bulgares» in einer tieferen Stimmlage erinnert. Eine Vielzahl von Holzdreiecken dient als Requisiten. Mal flach auf den Boden gelegt, sind sie Catwalk für belustigendes Hinternwackeln, bieten aufgestellt das Bild von Schweizer Panzerabwehrelementen in den Wäldern und wenn sie wie Dominosteine fallen und den gemütlich den Böhmermann-Titel des ‹Spiegels› lesenden Sitzenden am anderen Ende der Bühne hinterrücks umhauen, haben sie ihre Unschuld als vielseitig einsetzbare Puzzleteile endgültig verloren. Zumindest wird eine klare Grenzziehung zwischen Alltagsutensil und Waffe infrage gestellt. Ebenso wie im Textteil der Macht und Ohnmacht, Ruhe und Eifer, Selberdenken und Nachhecheln in Variationen zur Denkdisposition stellt, ohne zur eigentlichen Predigt zu werden, weil der Erstkontakt eines Sprechers mit dem Saalmikrophon darin besteht, es wie ein ungeschickter Clown umzustossen.

Die Wahl der vom Flamenco, der Klassik, dem Breakdance und dem Zeitgenössischen herkommenden Tänzer erweitert die Möglichkeiten dieser Choreographie ins schier Unermessliche. Alle können ihre spezifische Tanzeigenheit in Soli präsentieren, während sie sich in Gruppenteilen organisch ergänzen und ausnehmend harmonisch wirken. Das kann auch darin münden, dass drei Männer hintereinander stehen, einer spricht und seine sechs Arme sich in einer kleinräumigen Choreographie verhalten, als stammten sie aus einer Bewegungsstudie eines Comic. Eine Ansammlung von Männern rund um einen in ihrer Mitte kann – nur leicht nuanciert – in diesem Augenblick eine bedrohliche Komponente von zu befürchtender Gewalteinwirkung darstellen, wie sie nur einen Augenschlag später der an kunstvoll verstrebte Architektur erinnernde Schutzwall gegen jede äussere Bedrohung wird. Und diese Bedrohung zielt keineswegs nur auf die körperliche Unversehrtheit, sondern meint auch den freien Geist, das klare Denken und die Musse dazu, die es alle gegen eine missverstandene Interpretation von Wirtschaftlichkeit, Leistung und Uniformität zu verteidigen lohnt. Und dann ist da noch: Zartheit und Fürsorge, simple Herstellung von fulminant wirkenden Bewegungsabläufen und die kokette Hintertreibung jedes ernsten Gedankens, die ihn mit dieser an Leichtigkeit kaum zu übertreffenden feinen Ironie erst recht wieder zurück an seinen Ursprung rückt, ohne eine gefühlte bleierne Schwere zu hinterlassen. «Fractus V» ist Augenweide und Hörgenuss zugleich, kluge Anspielung für den Intellekt wie kaum klar verortbares Wohlgefühl, schweisstreibende Höchstleistung und charmant verschmitztes Augenzwinkern in einem. Oder einfach die gekonnte Herstellung von Glücksgefühlen für ein Publikum und in der gesamten Virtuosität schlechterdings brillant!

 

«Fractus V», 24.4., Dampfzentrale, Bern.

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