Gleichgepolte Magnete

Was ist Wahn, was ist Wirklichkeit und wer vermages, einen Unterscheidungsstrich dazwischen zu ziehen? Die Frantics Dance Company erschafft mit «Dis.Order» einen Bühnenraum, der Gewissheiten aushebelt.

 

Gemäss Ankündigung verhandelt das rein männliche Tanzkollektiv Frantics, das nur unter diesem Titel auftritt, ohne ihre Einzelnamen aufzuführen, mit diesem Stück die offenbar vermehrt aufkommende Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung ADHS. Dabei vermischt sich während der knappen Stunde atemloser Bilderfolge alles. Es bleibt weitestgehend unklar, ob sie eine Art fantastischer Welt wie «Alice im Wunderland» darstellen, die hochpräzise und wahnsinnig schnelle Zusammenarbeit von Synapsen im Hirn bei irgend einer Tätigkeit, die leidlich zugespitzt umgesetzte Rastlosigkeit während des Versuchs einer konzentrierten Fokussierung darstellen oder ob gerade diese Nichtunterscheidbarkeit im Überlappen von allen Reizen zur selben Zeit ein Publikum einerseits von jedweder Verlockung, sich hinter einer von irgendwoher greifbaren Gewissheit zu verschanzen abhalten soll, indem es andererseits von einem authentisch wirkenden Innengefühl von ADHS in seiner Gänze als etwas einen den Boden unter den Füssen Wegziehendes, eine alles andere überragende Kraft nachfühlbar mit einem Gefühl der Überwältigung vertraut machen will. Dabei spielts überhaupt keine Rolle. Mit «Dis.Order» glückt den vier Tänzern die Darstellung von etwas leicht verstörend bis beängstigend Unübersichtlichem, das gleichzeitig einen immensen Sog ausübt, weil diese körperlich agile, energetisch aufgeladene Lebendigkeit jeden der vier auch dazu befähigt, die kleinste Nebensächlichkeit in ein akrobatisches Kunststück zu verwandeln. Daraus also eine Faszination erwächst, die mit der sogenannt problembehafteten (immerhin steht das S in ADHS für Störung) Gegenseite in einen konstanten Widerstreit tritt. Ungefähr so, wie wenn zwei gleichgepolte Magnete mit aller Kraft zusammenzuführen versucht wird. Ihre Bewegungen sind optisch erfassbar und wissenschaftlich sogar erklärbar, was aber die dadurch erzeugte Spannung während des Versuchs überhaupt nicht tangiert, weil es wirkt, wie wenn da noch eine Zauberkraft ihre Finger im Spiel hätte. Mit ein klein wenig kindlicher Entdeckerfreude und Traumbereitschaft, siehe Alice, wird daraus eine ganze Welt. Eine, in der alles möglich ist und die davon befreit ist, Sinn zu ergeben oder gar so etwas wie einen Zweck erfüllen muss. Womit auch ihre Diskrepanz zum sogenannten Funktionieren einer zwingenden Logik folgt. Zum Zusehen: Ein fantastischer Rausch.

 

«Dis.Order», 24.11., Tanzfestival Winterthur im Theater am Gleis, Winterthur.

 

 

 

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