Gewollte Ungerechtigkeit

Ich habe eine Freundin, deren Lehrer ihr in der 5. Klasse vom Gymnasium abriet, weil sie das nicht packen würde. Die Freundin ging später mit mir ins Gymnasium und doktorierte noch später an der ETH. Meine Freundin ist überzeugt, dass ihr der Lehrer nichts zutraute, weil sie ein Mädchen war. Das war in den 1980er-Jahren. In den 1990er-Jahren überholten dann die Mädchen die Jungen bei der Maturitätsquote. Heute studieren mehr Frauen als Männer Geistes- und Sozialwissenschaften, Medizin und Recht. Zwischen 1980 und 2019 stieg der Frauenanteil zudem bei den technischen Wissenschaften von 20,1 auf 31 Prozent und bei den Naturwissenschaften von 18,3 auf 43,3 Prozent. 

Bei den Mädchen hat sich also einiges getan. Was sich nicht verändert hat: Die Bildungschancen von Benachteiligten, von Arbeiterkindern, von Heimkindern oder von Migrantenkindern. Studien über Studien zeigen, dass das Schweizer Bildungssystem sozial höchst selektiv ist. So beispielsweise der Schweizerische Wissenschaftsrat in einem Bericht 2018. Das schweizerische Bildungssystem führe zu einer «Reproduktion sozialer Ungleichheit». Es gäbe dringenden Handlungsbedarf: «Eine Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Geschlecht und sozialer Stellung verstösst gegen die (…) Bundesverfassung und stellt einen unhaltbaren Zustand dar.» Das Ziel von mehr Bildungsgerechtigkeit sei nicht eine Akademisierung, sondern eine «gerechte Chancenverteilung (…) unabhängig von Herkunft und sozioökonomischem Status des Elternhauses». Das Problem sei, dass heute die Startchancen ungleich verteilt seien und im Verlauf des Schullebens nicht mehr verändern: Das führe dazu, dass ein begabtes Akademikerkind die fünf Mal höhere Chance auf eine akademische Ausbildung hat wie ein gleich begabtes Arbeiterkind.  Aber – so die Autoren, «trotz klarer Datenlage wird die Problematik der sozialen Selektivität auf der politischen Ebene nach wie vor nicht im angemessenen Umfang wahrgenommen.»

Ich war am Dienstag an einem Gespräch auf SRF 2 mit der Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm (das Gespräch wurde am Donnerstag ausgestrahlt). Dabei stellte sie mir die gleiche Frage. Warum reagiert die Politik nicht darauf, wenn es doch einen eindeutigen wissenschaftlichen Befund gibt, dass wir mit der Chancengleichheit in der Schweiz ein Problem haben? Natürlich gibt es immer wieder Vorstösse, vor allem seitens der SP und der Grünen, die Chancengleichheit zu verbessern. Diese scheitern aber immer wieder oder werden nicht umgesetzt. Warum ist das so, wenn es doch eigentlich – auch aus liberaler oder konservativer Sicht – einleuchtend sein soll, dass jene ans Gymnasium gehen sollten, die die Fähigkeiten dazu mitbringen, und nicht jene, deren Eltern ihnen möglichst viele Kurse zahlen können. 

Zwei solche politischen Debatten sind dazu aufschlussreich. Im März 2019 wurde im Gemeinderat über einen Vorstoss der SP diskutiert, der forderte, dass in allen Schulen der Stadt eine gute Prüfungsvorbereitung angeboten werden muss, damit die SchülerInnen in Schwamendingen die gleichen Chancen haben wie jene am Zürichberg. Die SVP wehrte sich dagegen, weil laut Gemeinderat Stefan Urech die Chancengleichheit eh eine Illusion sei: «Eine hundertprozentige Gleichheit bleibt ein Traum der Juso.» Der Sturm aufs Gymnasium sei sowieso nicht sinnvoll. Das sah auch Schulvorstand Filippo Leutenegger (FDP) so, der das Postulat entgegennahm. Das Gymnasium sei nicht für alle Schüler der Königsweg. Wer nur mit Not die Prüfung bestehe, scheitere später oft an der Probezeit: «Für sie wäre eine Berufslehre allenfalls die bessere Lösung.» Was wahr ist, aber nichts mit Chancengleichheit zu tun hat.

Im Kantonsrat wurde im August über einen Vorstoss der SP debattiert, welcher das Förderprogramm ‹ChagALL› des Gymnasiums Unterstrass für talentierte SchülerInnen mit Migrationshintergrund ausweiten möchte und auch für SchülerInnen aus bildungsfernen Haushalten anbieten will. ‹ChagALL› bereitet Jugendliche auf Aufnahmeprüfungen für Berufsmittelschulen oder Kurzzeitgymnasien vor und ist sehr erfolgreich. Rund siebzig Prozent bestehen die Aufnahmeprüfung und die meisten von ihnen schaffen danach auch Probezeit und Abschlussprüfungen. SVP und FDP kämpften im Kantonsrat dagegen. Matthias Hauser (SVP) fand es unnötig, die Matura stehe eh allen offen und die Hürden seien sowieso zu tief. Alexander Jäger (FDP) glaubte, dass das Programm ein Angriff aufs duale Bildungssystem sei. Es zementiere eine Zweiklassengesellschaft: «Gut ist, wenn jemand ins Gymi kommt, weniger gut ist, wenn jemand eine Lehre macht.»

Nun ist es selbstverständlich so, dass wir ein hervorragendes Berufsbildungssystem haben. Aber es wird auch nicht dadurch besser, wenn sich Akademikerkinder mit Förderkursen durchs Gymi quälen, wenn sie vielleicht lieber eine Lehre machen würden. Genauso wenig wie es davon profitiert, wenn man Kindern aus armen Verhältnissen das Schulleben schwer macht. 

Die Antwort auf die Frage von Stamm scheint mir eher woanders zu liegen. Jürg Schoch, der ehemalige Rektor des Gymnasiums Unterstrass gibt sie in einem Interview mit der NZZ klar: «Die Verantwortlichen – und jetzt bin ich ein bisschen böse – haben kein Interesse, daran etwas zu ändern. Das ist politisch so gewollt.» Die Plätze fürs Gymnasium, für die Sek A seien nun mal begrenzt. Und man könne nun drei Mal raten, wer diese bekommt. Die politisch Verantwortlichen in den Räten und den Exekutiven sind oft selber AkademikerInnen. Tendenz steigend. Arbeiterinnen, Sozialhilfeempfänger, Menschen mit Migrationshintergrund selten bis inexistent. Und so vermischen sich die Interessen der Eliten, die lieber unter sich bleiben mit den Ressentiments jener, die meinen, sie würden von der Elite verlacht. 

Ein Misstrauen gegen die Akademisierung ist durchaus nachvollziehbar, genauso wie das Gefühl, die Berufslehre verliere an Bedeutung. Denn in der Realität gibt es diese Tendenz. Akademische Berufe gewinnen an Prestige und Reallohn, nichtakademische verlieren. Was denn Run aufs Gymnasium nicht kleiner werden lässt. 

Und so wird die Bildungspolitik weiter gehen wie bisher: Während von links bis rechts das Hohelied auf das duale Berufsbildungssystem gesungen wird, wird dem eigenen Nachwuchs der Förderunterricht bezahlt und die HochschulabgängerInnen aus der EU übernehmen jene Stellen, für die wir selber zu wenige ausbilden. Dafür kann man dann wieder über deutsche Ärztinnen und Professoren schimpfen. 

 

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