Gewinnen, um jeden Preis

Lange war Mario Fehr der SP ein Dorn im Auge. Dann kam die öffentliche Trennung. Jetzt tritt er als parteiloser Kandidat erneut für die Regierungsratswahlen an. Was treibt ihn an?

 

Wäre Mario Fehr ein Geräusch, er wäre das schrille Klingeln eines Telefons. Seine Anrufe bei Parlamentarierinnen und Journalisten sind berüchtigt. Auch in Vorbereitung für das Gespräch für dieses Porträt hat er wieder viel telefoniert: Er macht gegenüber dem Journalisten nicht nur klar, dass er bereits weiss, mit wem dieser gesprochen hat, sondern empfiehlt im gleichen Atemzug auch Personen, die ihn kritisieren könnten. 

 

«Mario Fehr bleibt Mario Fehr». Mit diesem Slogan tritt Mario Fehr für eine vierte und wahrscheinlich letzte Amtszeit für den Zürcher Regierungsrat in den Ring. Er hat in den letzten zwölf Jahren viele Konflikte als Exekutivmitglied in der Öffentlichkeit ausgetragen, gilt bei Linken als Rechtsausleger und hat die Partei, für die er mehr als die Hälfte seines Lebens in einem politischen Amt verbracht hat, im Streit verlassen. Eine Frage drängt sich auf: Wer ist abgedriftet – Mario Fehr oder seine KritikerInnen?

 

Für Fehr ist klar: «Ich bin verlässlich, ich bin für die Bevölkerung lesbar und ich mache keine tagespolitischen Schwankungen mit.» Er sei seiner politischen Linie die letzten 12 Jahre als Regierungsrats stets treu geblieben, das möchte er mit seinem Slogan vermitteln.

 

Die Sache mit der Migrationspolitik

Diese politische Kontinuität bestätigen auch langjährige Weggefährten von Fehr. «Er ist kein Ideologe, sondern Pragmatiker, dem das Wohl des Kantons ein Anliegen ist», sagt etwa Daniel Frei. Frei gilt als politischer Ziehsohn von Fehr. 2017 trat er aus Protest als Präsident der SP-Kantonalpartei ab, weil die Partei ihren Regierungsrat für dessen neusten Verschärfungen im Umgang mit Asylsuchenden öffentlich kritisiert hatte. Es ging um Präsenzkon­trollen für abgewiesene Asylsuchende, die Fehr 2016 einführte und die zahlreiche Organisationen als eine «systematische Schikane von Nothilfebeziehenden» bezeichneten. Heute politisiert Frei in der GLP und sagt: «Mario Fehr ist über die Jahre nicht nach rechts gerückt. Wenn überhaupt, dann ist er liberaler geworden.»

 

Mario Fehr, die einzige Konstante in einem politischen Koordinatensystem, das nach links gerutscht ist? Diese Geschichte trifft laut Simon Jacoby nicht zu. Der Zürcher Lokaljournalist war früher Mitglied der SP Adliswil und hat die Karriere von Mario Fehr über die Jahre beobachtet. Als Nationalrat sei Fehr noch voll im sozialdemokratischen Mainstream gewesen. «Der Bruch kam irgendwann nach seiner ersten Wahl in den Regierungsrat.» Marc Spescha, einer der renommiertesten Migrationsanwälte der Schweiz, war bei Mario Fehrs erster Kandidatur als Regierungsrat in seinem Unterstützungskomitee. «Damals hat er gegenüber mit durchblicken lassen, dass er ernsthaft gewillt ist, die systematischen Mängel, die sich unter seinem Vorgänger beim Zürcher Migrationsamt eingeschlichen haben, zu beheben und den dringend notwendigen Kulturwandel im Amt einzuleiten», erinnert sich Spescha. Dies sei aber leider nicht geschehen. Als Spescha 2016 das Zürcher Migrationsamt mit zahlreichen Belegen öffentlich kritisierte, war das Verhältnis zerrüttet. «Mario Fehr und seine Politik haben mich als Migrationsrechtler und Sozialdemokraten zutiefst enttäuscht. Er hat sich als nicht kritikfähig erwiesen und hat das Nutzenkalkül eines Opportunisten.» 

 

Zu Speschas Kritik sagt Mario Fehr: «Er ist ein toller Migrationsanwalt, aber er verfolgt als solcher natürlich seine eigenen Interessen.»  Vom Vorwurf, seine Migrations- und Asylpolitik sei zu hart, hält er wenig. Er sei dem Gesetz verpflichtet. «In einer Demokratie hat das Asylsystem nur dann seine Legitimation, wenn die geltenden Gesetze auch durchgesetzt werden.» Der Kanton Zürich sei aber der einzige Kanton, der ein gross angelegtes Härtefallprogramm habe. «Schauen sie sich die Statistik an, ich bin deutlich milder als sehr viele meiner KollegInnen in anderen Kantonen.» Das P.S. hat genau das für das Jahr 2021 getan: Bei Härtefallgesuchen für vorläufig Aufgenommene ist der Kanton Zürich, auf die Bevölkerungszahl heruntergerechnet, grosszügiger als die Kantone Basel-Landschaft und Schaffhausen, aber deutlich strenger als die Kantone Bern, Luzern oder Solothurn. Spätestens bei der Härtefallregelung für Sans Papiers fällt Zürich aber komplett ab: Gerade einmal 10 Gesuche wurden gutgeheissen. Zum Vergleich: Bei der halb so grossen Waadt sind es 90.  

 

Mehrheitsbeschaffer

Doch es geht auch anders: Wer Mario Fehr auf seiner Seite weiss, hat es gut. Er sei fast schon rastlos, sagen die, die ihn kennen. Wenn Mario Fehr sein politisches Gewicht in Bewegung setzt, ist er meistens erfolgreich. Als Beispiel nennt Markus Schaaf, EVP-Kantonsrat und Präsident des Verbands der Kantonspolizisten, das Budget der Kantonspolizei.  «Wenn Sparaufträge für die Kantonspolizei auf dem Tisch liegen, wie dieses Jahr von bürgerlicher Seite, schmiedet Mario Fehr Allianzen, verhandelt mit den Fraktionen und überzeugt sie so lange, bis die Sparanträge vom Tisch sind.» Mario Fehr sagt dazu: «Ich möchte realisieren, was ich mir vorgenommen habe. Dazu gehört, dass alle Menschen im Kanton Zürich sicher leben können.» Er sei nicht durch einen hohen Lohn motiviert, sondern durch den konkreten Erfolg.

 

Einer dieser Erfolge: Das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, das die Wahlfreiheit und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Bezug von Leistungen stärkt. Er habe sich nach seinem Austritt im letzten Jahr gefragt, ob er als parteiloser Regierungsrat noch Mehrheiten im Kantonsrat für seine Anliegen finden könne. «Das Selbstbestimmungsgesetz ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass ich das noch kann: Es ist ohne Gegenstimme durch den Kantonsrat gekommen.» Er arbeite mit allen Fraktionen kon­struktiv zusammen, auch mit der SP.

 

«Keine Misserfolge»

Auf die Frage, welche politischen Misserfolge er als Regierungsrat hinnehmen musste, antwortet er, er habe alle seine Vorlagen im Regierungsrat und vor dem Volk durchgebracht. «Ich hatte die letzten zwölf Jahre keine Misserfolge.» 

 

Mit diesem Selbstverständnis – Mario Fehr bleibt Mario Fehr –, dass gleichzeitig ein Versprechen an seine Wählerinnen sein soll und wie eine Drohung für seine Kritiker klingen muss, tritt er also nochmals an. «Ich führe die Aufgabe mit voller Leidenschaft und Engagement aus, ich hoffe, Sie spüren das», schliesst er das Gespräch. Und vielleicht ist die Frage, ob er politisch abgedriftet ist, auch falsch gestellt. Vielleicht ist viel wichtiger zu fragen, was Mario Fehr politisch antreibt, nochmals als parteiloser Kandidat anzutreten. Alle, ob Weggefährten oder Kritikerinnen, sagen, Mario Fehr trete an, um zu gewinnen. Und dafür tue er alles. 

 

Regierungsratswahlen 2023

Mit dieser Porträtreihe stellen wir bis Anfang Februar die bisherigen und die neuantretenden RegierungsratskandidatInnen vor: diese Woche Mario Fehr (parteilos, bisher). Erschienen im P.S. vom 02.12.2022

 

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