Gesundheitspolitik – ein Grundpfeiler der Sozialpolitik

Eine Rede von Stadträtin Claudia Nielsen anlässlich der Mitgliederversammlung der SP6.

Je älter ich werde, desto häufiger wünscht man mir zum neuen Jahr und zum Geburtstag vor allem eines: Gesundheit. Vielleicht fällt es mir auch immer mehr auf, wer weiss? Fakt bleibt: Gesundheit ist eine der Grundvoraussetzungen für ein glückliches Leben und sie ist nicht selbstverständlich.

Richtig zu schätzen weiss man sie meistens erst dann, wenn sie einem fehlt. Wenn man einen Unfall hatte, krank wird oder allgemein wenn man langsam älter wird. Genauso wie alle wichtigen Dinge im Leben kann man auch Gesundheit nicht kaufen. Aber medizinische Leistungen, Pflege, einen gesunden Lebensstil mit Bewegung und ausgewogener Ernährung, das kann man alles «kaufen» und das gibt es nicht umsonst. Es gibt genug Belege dafür, dass die Grundvoraussetzungen für Gesundheit in unserer Gesellschaft ungleich verteilt sind. Sie korrelieren mit Bildung, Einkommen und Vermögen. Wer mehr hat, kriegt auch mehr. Deshalb ist die Gesundheitspolitik ein Grundpfeiler der Sozialpolitik. Eine solidarische Gesellschaft muss dafür sorgen, dass auch die Chance auf Gesundheit gerecht verteilt werden kann. Dass alle Menschen die Leistungen, die sie brauchen, dann bekommen, wenn sie notwendig sind.

Solidarität ist auch effizient

Solidarität ist mehr als eine Frage von Moral und politischer Haltung. Solidarität ist auch ein effizientes Prinzip. Und im Fall der Gesundheitsversorgung ist sie auch ökonomisch effizient. In einem privatisierten System würde nur noch angeboten, was sich lohnt und was Profit abwirft. In diesem eingeschränkten Bereich würde sich wahrscheinlich durchaus eine Art Teilwettbewerb bilden können. Aber wer keine lohnenswerte Krankheit hat, würde hier nicht behandelt. Menschen mit mehreren Problemen, mit seltenen oder auch chronischen Krankheiten würde keine Behandlung mehr angeboten. Dafür müsste auch dann nach wie vor der Staat aufkommen und Lücken schliessen, währendem sich die Privaten gegenseitig die rentabelsten Patientinnen und Patienten streitig machen würden. Gerade alte Menschen würden in einem solchen System verlieren. Alte Menschen sind oft mehrfachkrank und viele sind finanziell nicht auf Rosen gebettet. Eine solche Fragmentierung wäre kaum mehr zu steuern. Auch nicht durch das Leistungsauftragssystem der kantonalen Gesundheitsdirektion.

Wenn es nach dem Kanton ginge, dann hätten wir vieles im Gesundheitssektor längst privatisiert. Massgeblichen politische Kreisen im Kanton Zürich scheinen darauf zu vertrauen, dass der freie Markt es dann schon richte und damit gleich den Anstieg der Gesundheitskosten elegant aus der Welt schaffe. Nur – ganz so einfach ist das nicht. Gesundheitsversorgung unterliegt nicht dem freien Markt und sie kann auch nicht. Nicht nur, weil es sozialpolitisch bedenklich wäre, wenn Gesundheit zum Luxuskonsumgut würde. Sondern vor allem, weil die Grundvoraussetzungen für einen freien Markt nicht gegeben sind. Damit Angebot und Nachfrage sich balancieren und so die Preise selbst regulieren könnten, dafür bräuchte es gleichmässig verteilte Information und die freie Wahl zum Konsum der angebotenen Güter und Dienstleistungen. Wenn wir krank sind, dann wollen wir alle aber nur noch eins: Gesund werden. Wir können in dieser Situation weder frei noch sachlich entscheiden. Wir wissen nicht, ob wir das, was uns die Ärztin oder der Arzt verschreibt, wirklich haben wollen und wir haben nicht die Freiheit, zuerst abzuklären, ob wir es woanders billiger kriegen. Wer es sich leisten kann, wäre bereit, jeden Preis für seine Gesundheit zu bezahlen. Die andern müssten sich verschulden oder Schlimmeres. Und am Ende? Am Ende würden die Schwächsten auf der Strecke bleiben. Wir müssten zusehen, wie Arme an heilbaren Krankheiten sterben und Reiche ihre Gesundheit mit unnötigen Eingriffen gefährden.

Schnittstellenmanagement dank Gesundheitsversorgungskette

Deshalb reguliert in der Gesundheit der Staat schon seit langem die Preise, kontrolliert die Qualität und unterstützt Ausbildung und Forschung. Die Stadt Zürich legte schon vor über 100 Jahren die notwendigen Grundsteine und begann sich in der Gesundheitsversorgung zu engagieren. Und das immer schon mit Hilfe tatkräftiger Unterstützung der sozialdemokratischen Kräfte. Das fing mit der Einstellung von zwei Gemeindeschwestern im anbrechenden 20. Jahrhundert an und führte von dort bis zur Gründung der beiden Stadtspitäler Waid und Triemli. Heute verfügt die Stadt über eine effiziente und ineinandergreifende Gesundheitsversorgungskette, die aus einer Hand gesteuert und weiterentwickelt wird. Diese Kette umfasst insbesondere auch die Schnittstellen zwischen den einzelnen Organisationen.

Was wir in unserer Arbeit täglich sehen, ist, dass die Schnittstellen im Gesundheitsbereich höchster Aufmerksamkeit und sorgfältiger Planung bedürfen. So wie zum Beispiel die Abteilung für Übergangspflege, wo wir uns um Menschen kümmern, die nicht mehr die umfassende Leistung eines kostenintensiven Akutspitals benötigen aber auch noch nicht soweit genesen sind, dass sie wieder nach Hause können. Oder die zeitnahe Organisation von Unterstützung durch die Spitex nach einer Spitalentlassung – auch am Wochenende und in der Nacht. Auch das Projekt Hausbesuche SiL deckt mit gerontologischer Beratung und Abklärung zuhause eine wichtige Schnittstelle ab. Übrigens ein Projekt, das immer wieder mit Interesse verfolgt wird und auch als Vorbild für Projekte in anderen Gemeinden dient. Diese Schnittstellen findet man leichter innerhalb eines zusammenhängenden Systems und sie lassen sich mit weniger Aufwand – sowohl finanziell als auch organisatorisch – an die einzelnen Institutionen anbinden. Denn ein Spital ist niemals nur ein Spital. Es ist ein Teil eines komplexen Systems und als solches muss es auch funktionieren.

Das System der Gesundheitsversorgungskette in der Stadt Zürich ist über lange Zeit gewachsen. Auf diesen Resultaten und Erfahrungen müssen wir weiter aufbauen. Das braucht Zeit und das braucht Umsicht und Weitsicht und das braucht eine Kooperationsform, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Im Zentrum stehen die Menschen

Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte aus dem Stadtspital Triemli erzählen: Eines Morgens will ein 48-jähriger Mann – nennen wir ihn Reto M. – ein T-Shirt aus dem Schrank nehmen. Doch sein Arm gehorcht ihm nicht mehr. Auch Sprechen kann er nicht. Zum Glück reagiert Retos Partner blitzschnell und bringt ihn sofort in die Notaufnahme des Triemli. Die Symptome deuten auf einen Schlaganfall hin und so wird sofort die entsprechende Notfallkette ausgelöst: Radiologie und Neurologie werden informiert, der Patient erhält Priorität im CT-Raum, ein EKG wird gemacht. Schon während der CT-Untersuchung entscheiden Notfallmediziner und Neurologen aufgrund der bereits gesammelten Daten gemeinsam, dass Reto umgehend eine Thrombolyse erhält, und senken damit die sogenannte «door-to-needle-time» auf ein Minimum. Diese Zeit ist ein wichtiges Qualitätskriterium für eine zertifizierte Stroke Unit, wie sie am Triemli zu finden ist. Nach der Thrombolyse, die auf der Notfallstation – nur wenige Schritte von der Intensivpflegestation IPS entfernt – stattfindet, wird Reto auf die Stroke Unit verlegt. Hier kümmern sich Neurologen und ein auf Schlaganfälle spezialisiertes Pflegeteam rund um die Uhr um ihn. Um eine nachhaltige Langzeitbehandlung zu bestimmen, wird die Suche nach den Ursachen des Schlaganfalls aufgenommen, dabei sind auch die Kardiologen eingebunden. Um keine Zeit zu verlieren, erhält Reto schon am ersten Tag ergotherapeutische und logopädische Behandlung. Das Sprechen muss er neu lernen. Diese Therapie wird nach der Akutbehandlung in der neurologischen Rehabilitationsklinik weitergeführt. Der Chefarzt der Rehabilitationsklinik kommt noch vor der Verlegung vorbei, um Retos Bedürfnisse zu besprechen. Auch das gehört alles zur Behandlungskette, die in Gang gesetzt wurde, als Retos Partner ihn in die Notaufnahme brachte. Wäre er per Ambulanz eingetroffen, wäre die Kette sogar schon vom Fahrzeug aus in Gang gesetzt worden. Reto M. geht es heute wieder gut.

Das Erfolgsrezept in diesem komplexen Fall lautete Geschwindigkeit und Kooperation: Die hohe Geschwindigkeit, mit der ein Team von Spezialistinnen und Spezialisten, dynamisch und eng miteinander zusammenarbeitete. Es gab etablierte Prozeduren, welche festlegten, was wann zu tun ist und wer wann wie wo aufzubieten und miteinzubeziehen ist.

 

Systemdesign statt Fokus auf’s Einzelteil

Hier hat die Stadt Zürich einen ganz entscheidenden Vorteil: Die Stadt hat bereits ein funktionierendes System: Die Gesundheitsversorgungskette, welche aus den zwei Stadtspitälern, den Pflegezentren der Stadt Zürich, den städtischen Gesundheitsdiensten und der Spitex besteht. Unser System hat uns immer wieder ermöglicht, Verknüpfungen zu schaffen und Lücken zu schliessen. Dadurch sind es heute nicht einzelne Organisationen, welche die Gesundheitsversorgung in der Stadt Zürich sicherstellen, sondern es ist ein System aus Organisationen und unterschiedlichen Angeboten. Ein System mit einer über 100-jährigen Geschichte. Ein System, das es sich gewohnt ist, in Teams zu arbeiten und zu denken. Dieses System ist das Ergebnis von politischen Verhandlungen und demokratischen Prozessen und nicht von Entscheiden einer einzelnen Führungsperson. Es ist wichtig, dass Leistungen in der Gesundheit finanzierbar bleiben, aber es ist genauso wichtig, dass weder Lücken noch Doppelspurigkeiten entstehen und die Gesundheitsversorgung als System zusammen arbeitet.

1+1+1+1 ist mehr als vier

Ein weiteres wunderbares Beispiel für die funktionierende Vernetzung in der Stadt Zürich über mein Departement hinaus ist der Universitäre Geriatrie-Verbund, welcher am Dienstag, 3. Februar 2015 seinen Start in den gemeinsamen Arbeitsalltag gefeiert hat. Diese Kooperation des Stadtspitals Waid, der Pflegezentren der Stadt Zürich, der Universität Zürich und dem UniversitätsSpital Zürich zeigt, dass manchmal 1+1+1+1 viel mehr sein kann als vier. Dieser Verbund vernetzt die universitäre Lehre und Forschung mit der praxisorientierten stationären und ambulanten Behandlung und Betreuung der Patientinnen und Patienten. Im Fokus stehen die Entwicklung und Realisierung neuer diagnostischer und therapeutischer Konzepte sowie die Förderung des ärztlichen und pflegerischen Nachwuchses im Bereich Geriatrie. Und so stärken wir auch den Forschungsstandort Zürich im Bereich der Geriatrie.

Damit dieses System funktionieren kann, brauchen wir die ganze Palette an Patientinnen und Patienten. Diejenigen, die rentieren und diejenigen, die sich nicht rentieren. Die Behandlung von Reto M. war bestimmt nicht günstig. Doch sie hat dafür gesorgt, dass ein erst 48-jähriger Mann überlebt hat. Dass er wieder Sprechen gelernt hat und dass er wieder im Berufsleben steht. Solche Geschichten geben mir Kraft für meine Arbeit und motivieren mich. Solche Geschichten sind aber auch das stärkste Argument für unsere Gesundheitsversorgungskette: Wenn wir die ökonomisch interessantesten Stücke aus der Kette reissen und privatisieren, dann zerfällt das System. Die daraus resultierende Komplexität wird irgendwann nicht mehr zu managen sein.

Damit das System funktionsfähig bleibt, müssen die Stadtspitäler ein integrativer Teil der Gesundheitsversorgungskette sein und sie müssen als Teil des Systems koordiniert werden können. In welcher Rechtsform das genau geschehen wird, ob es zwingend Dienstabteilungen sein müssen oder ob es auch andere Lösungen gibt das ist sekundär. Man darf auch darüber diskutieren ob die Stadtspitäler mehr Spielraum brauchen. Was wichtig ist, ist dass wir sie in unserer Hand behalten und damit den Patientinnen und Patienten die Hand reichen können, dann wenn sie sie am meisten brauchen.

Und deshalb stehen im Mittelpunkt der Spitälerstrategie, an welcher mein Departement aktuell arbeitet, die Patientinnen und Patienten. Und nicht nur ein betroffenes Organ oder ein Gelenk. Die Menschen, die unsere Solidarität brauchen und um die herum sich die Gesundheitsversorgung in der Stadt Zürich weiterentwickeln muss.

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