Gesellschaft, Kunst und der Anruf der Zeit

Was ist «Kunst», was «die Gesellschaft»? Und was haben die beiden miteinander zu tun? Diesen Fragen geht Fritz Billeter, früherer Kulturredaktor des ‹Tages-Anzeigers›, in seinem kürzlich erschienenen Essay nach. Wie es dazu kam, erklärt der 1929 geborene Germanist und Kunstkritiker im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Angesichts Ihrer zahlreichen Veröffentlichungen in der Vergangenheit und Ihres Alters muss die erste Frage ganz banal lauten: Warum haben Sie sich das Schreiben Ihres jüngsten Buches, des Essays «Kunst und Gesellschaft», angetan?

Fritz Billeter: Ein Essay ist weniger kurzatmig als die Texte, die ich als Journalist schrieb. Damals beim ‹Tages-Anzeiger› war eine halbe Zeitungsseite das höchste der Gefühle. Ganz schlimm wars diesbezüglich, nachdem mich Lilith Frey zum ‹Blick› geholt hatte: Ich musste jeweils mit Schreiben aufhören, kaum hatte ich begonnen, so wenig Platz stand der Kulturberichterstattung zur Verfügung. Dafür stimmte dort das Honorar… Das Schreiben dieses Essays hingegen war etwas ganz anderes: Es hat drei Jahre gedauert und mir Spass gemacht, und ich hoffe, dass auch bei den Leserinnen und Lesern etwas davon ankommt.

 

Drei Jahre für ein Buch mit gut 200 Seiten? Das tönt nach viel Zeit für einen geübten Schreiber.

Ich schrieb diesen Essay ohne vorgefasste Struktur, ohne Inhaltsverzeichnis. Dabei produzierte ich logischerweise viel ‹Abfall› in Form von Passagen, die zwar höchst interessantes Material enthalten, aber irgendwann nicht mehr in die nach und nach gewachsene Struktur hineinpassten.

 

Im Vorwort stellen Sie klar, dass Sie keine wissenschaftliche Abhandlung schreiben, sondern eben einen Essay – dennoch ist das Buch voller Querverweise auf Künstlerinnen, Schriftsteller, Politikerinnen, Historiker und so weiter…

Ja, aber bibliographische Hinweise hat es wirklich nur dann, wenn ich jemanden direkt zitiere. Die Betonung auf «Essay» mache ich, damit ich als Autor und die Leserinnen und Leser diesen wissenschaftlichen Ballast nicht mittragen müssen. Denn das hätte die Lust am Schreiben stark vermindert – und höchst wahrscheinlich auch den Lesefluss. Man kann mir natürlich auch Faulheit vorwerfen, doch mir ging es einfach darum, etwas Spannendes und Anregendes statt ein zwar interessantes, aber mühsam zu lesendes Werk zu schreiben.

 

Sie haben Ihr Thema und auch den Titel des Essays also nach und nach aus einer Fülle an Material herausgeschöpft – ganz unvoreingenommen?

Gemäss eines um 1900 einflussreichen italienischen Philosophen, Benedetto Croce, fällt die Kunst vom Himmel, will heissen, es ist alles Intuition. Welche gesellschaftliche Verfassung der Künstler antrifft, spielt keine Rolle, und darauf gibt ein Künstler folglich auch keine Antwort. Das leistet hingegen die seismografische, man könnte auch sagen politische Kunst. Hier gibt der Künstler eine Antwort auf die Bedingungen der Gesellschaft, in der er lebt. Doch auch ein Kunstwerk muss interpretiert werden, damit es grösseren Kreisen bewusst wird, dass es eine Antwort zur Zeit liefert. Georg Schmidt, Basler Museumsmann, Kunsttheoretiker und Kunsterzieher, ist diesbezüglich mein grosses Vorbild. Von ihm stammt der Ausdruck, der Künstler höre auf den «Anruf der Zeit». Notorisch deutlich wird das zum Beispiel schon bei Baudelaire als Kunstkritiker und bei Manet.

 

Auch die seismografische Kunst ist immer noch ein riesiges Betätigungsfeld: Wie haben Sie es geschafft, diese Fülle an Material zu bewältigen?

Ich habe mich an besonders reine Beispiele gehalten. Auf dem Cover etwa ist das Bild «La Liberté guidant le peuple» von Eugène Delacroix von 1830 abgebildet. Es zeigt die Freiheit in Gestalt der Marianne, der heldenhaften ‹Mutter› der französischen Nation. Nur: Genaugenommen passt diese Marianne nicht in den Rest des Bildes. Heinrich Heine schrieb dazu, «Fischweiber, Fischverkäuferinnen und eine Heroine…». Die Menschen auf den Barrikaden sind tatsächlich sehr realistisch aufgenommen, während sie etwas Idealisierendes hat, aber doch keine Allegorie ist, sondern eine sehr sinnliche Erscheinung mit entblössten Brüsten. Diese Bruchstelle, die der Künstler aber souverän überdeckt hat, das ist seismografisch an diesem Bild, hier hat er aufgehorcht: Wofür kämpfen die auf den Barikaden? Im Grunde genommen geht es um die Eigenschaften der grossen Revolution, um die Essenz von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

 

Sie beschreiben seismografische Kunst auch als Kunst jener, die beinahe schon hellseherische Fähigkeiten hatten.

Tatsächlich haben jene drei Künstler wunderbare seismografische Kunst gemacht, die den 1. Weltkrieg vorausgesehen haben: Edvard Munch mit dem ‹Schrei›, Franz Marc mit den ‹Tierschicksalen› und Oskar Kokoschka mit der ‹Windsbraut›. Aber man muss ihre Werke auch in diese Richtung deuten, wie es Kunstkritiker, Kulturkritiker, Philosophen ja auch machen: Es gibt grossartige Streiflichter über Kunst, die Philosophen verfasst haben, wenn auch selten. Ein Beispiel ist der Text von Jean-Paul Sartre über Alberto Giacometti – das beste, was über ihn je geschrieben wurde; oder der ebenfalls überragende Text von John Berger, «Glanz und Elend des Malers Picasso».

 

Aber längst nicht alle seismografischen Künstler sind auch im erwähnten Sinn vorausschauend.

Natürlich nicht. Kommt hinzu, dass der Einzelne nur dann wirkt, wenn die Gruppe, der er angehört, überzeugen kann. Diese Gruppe senkt ihre Erfahrung, ihren Zeitgeist oder wie man das nennen mag, in die ganze Gesellschaft hinein. Somit ergeben sich drei Stufen der Verbreitung: Künstler, Gruppe, Konsument.

 

Sie beschäftigen sich weiter mit dem Thema «Kunst gegen Diktatur».

In Zeiten der Diktatur hat es stets extreme Positionen von Künstlerinnen und Künstlern gegeben. Entweder sind sie emigriert oder verstummt, oder sie schrieben im Geheimen weiter. Gottfried Benn nennt letzteres eine «innere Emigration»: Er ist nicht geflüchtet, sondern hat als Stabsarzt gearbeitet und ist somit in der Armee untergetaucht, weswegen er nach dem Krieg angefeindet wurde; man hat ihm den Bruch mit dem Nationalsozialismus nicht so recht geglaubt. Ich nehme ihm diesen allerdings ab.

 

Was hat Sie zum Kapitel «Hat die Kunst eine Antwort?» geführt?

Die Tatsache, dass die Kunst eben nicht immer eine Antwort hat. Ich erwähne die Themen Atomwaffen, Holocaust und Genforschung. Es hat ein paar Leute, die sich zur Atomwaffe äusserten, die Schweizer Max von Moos und H.R. Giger beispielsweise, der DDR-Grafiker und Zeichner Armin Münch hat eine Zeichnungsmappe zur Atomfrage vorgelegt. Gegenüber der Genforschung hingegen blieb die Kunst bis jetzt stumm, anders als die Atomwaffen und den Holocaust thematisiert sie die Genproblematik nicht. Germaine Richier hat im Jahr 1949/50 für einen Altar einer Kirche in der Haute-Savoie ein Kruzifix in Bronze geschaffen, eine Darstellung, in der die Enthumanisierung des Holocausts erfahrbar wird. Ihre Christusdarstellung wurde zum Skandal und in einen Nebenraum der Sakristei verbannt. Als Gegenstück zu ihrem Kruzifix könnte man die Video-Arbeit «Tall Ship» des Amerikaners Gary Hill wahrnehmen.

 

Die nächste Überschrift nach den Ausführungen zu Germaine Richier und Gary Hill lautet, «Gruppe und Künstlergruppe». Was ist an dieser speziell?

Diejenigen Künstlerinnen und Künstler, welche die Kunst verändern wollen, aber nicht in erster Linie daran denken, die Welt zu verändern, sind als Künstler die bedeutenderen. Die andern nehmen die Kunst als Mittel, sie interpretieren die Wirklichkeit, sie wollen mit ihrer Kunst die Welt verändern – was dazu führt, dass sie das Gestalterische und Formale nicht mit gleicher Leidenschaft vorantreiben wie erstere.

 

Ist letzteres der Grund dafür, dass Künstlerinnen und Künstler aus der ehemaligen DDR keinen grösseren Auftritt im Buch haben, obwohl Sie einige von ihnen persönlich kannten?

Nein, der Grund liegt darin, dass es eine zu komplizierte Geschichte geworden wäre, dass ich dafür ein eigenes Buch hätte schreiben müssen. Ich habe auch die sogenannte Viererbande kennengelernt, die DDR-Künstler Willi Sitte, Bernhard Heisig, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer, die sich ebenfalls mit dem Thema befassten. Sie stand wohl im Einklang mit ihrer Regierung – aber das stimmt natürlich nicht ganz. Und dieses Buch zu schreiben reizte mich nicht, weil ich es bereits journalistisch abgehandelt habe, so gut es ging. Mattheuer beispielsweise war vielleicht nicht der grösste Künstler, aber er bewegte sich stets auf Messers Schneide.

 

Wie haben die Globalisierung und die digitale Revolution den Weg in Ihr Buch gefunden?

Der wichtigste Entwurf heute, in unserer kapitalistischen Zeit, ist für mich das bedingungslose Grundeinkommen. Die Finnen sind uns, was dessen Erprobung anbelangt, zwar voraus, doch die Schweiz ist immerhin das erste Land weltweit, das darüber abgestimmt hat. Dass gegen 23 Prozent dafür waren, heisst zwar noch nicht viel, sicher haben viele aus Protest Ja gestimmt, um dem Establishment Beine zu machen. Es gibt viele Probleme zu lösen, und es ist sicher keine Hauruck-Angelegenheit. Aber die Grundidee ist super: Wer will, kann für immer aus dem Erwerbsarbeitszirkus aussteigen und fortan ein bescheidenes Leben führen, oder man kann nur temporär aussteigen. Das setzt aber logischerweise voraus, dass es immer noch genügend Leute gibt, die mit dem alten Leistungsdrang weiterarbeiten, und die werden besteuert, natürlich nur soweit, dass ihnen mehr übrig bleibt als das Grundeinkommen, sonst machen sie nicht mit.

 

Und wieso interessiert das den Kunstkritiker?

Weil sich dann die Frage stellt, was passiert, wenn einer der wichtigsten Gründe fürs Leiden des Künstlers wegfällt: Gibt es dann noch Kunst? Gut, es gibt natürlich Kunst, die aus anderen Quellen kommt als durchs Leiden daran, entfremdete Arbeit leisten zu müssen. Und es gibt andere Formen des Leidens, vor allem unsere Endlichkeit – nur schon das Leiden daran müsste eigentlich reichen, um den Künstler zu motivieren. Dann kann man noch spekulieren, ob es eine Kunst rein aus der Stimmung von Dankbarkeit heraus gibt, dass man existiert – nur gibt es dafür keine Beispiele, ausser dem Komponisten Johann Sebastian Bach. Nur ein einziges Beispiel, das ist natürlich verdächtig. André Gorz, der Hausphilosoph von François Mitterrand, verwirft zwar die grosse Vision, dass jeder eine Arbeit hat, in der er sich verwirklichen kann. Aber er betont, dass wir die Schäden so gering wie möglich halten müssen. Deshalb braucht es das bedingungslose Grundeinkommen. Der Marxismus wiederum hält daran fest, dass jede Arbeit schöpferisch sein muss und jedermann erfüllt. Das ist idealistisch, da beisst sich der Marxismus in den eigenen Schwanz. Heute diskutieren wir, ob die Roboter uns dereinst die Arbeit wegnehmen. Die surrealistische These hingegen lautet, dass «keine Arbeit» der Idealzustand ist, gewissermassen die paradiesische Existenz. Die würde auch das Grundeinkommen nicht verwirklichen, aber es würde uns ermöglichen, Energie, die wir früher fürs Geldverdienen brauchten, stattdessen in Nachbarschaftshilfe oder Politik zu investieren.

 

Zum Schluss des Buchs befassen Sie sich noch mit dem Kunsthandel.

Der Kunsthändler Andy Illien hat mir erklärt, er kenne zwei Arten von Käufern: Die einen betrachten Kunst als lohnende Investition, die andern als Ausweis eines elitären Status›. Beim gegenwärtigen Stand der Wirtschaft kann man nur in Gold, Immobilien oder eben Kunst gewinnbringend investieren. Der zweite Typus Käufer sieht beispielsweise bei einem Freund ein Bild, das Millionen gekostet hat: Sogleich trachtet er danach, ein noch teureres Kunstwerk zu kaufen und sich damit ein Statussymbol zu sichern, wie es sonst am ehesten noch der Besitz einer Hochseejacht oder eines Fussballklubs ist. Wertschätzung drückt sich im Kapitalismus in angemessener Bezahlung aus. Selbst dem Sozialismus ist nicht viel besseres eingefallen, als dem Künstler ebenfalls mit Geld Anerkennung zu zollen.

 

Billeter, Fritz: Kunst und Gesellschaft. Ein Essay. Athena Verlag, Oberhausen 2017, 223 Seiten, 34.50 Franken, eBook 24.50 Franken.

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