(Bild: Matthias Horn)

Geschrei

Wer antike Texte aus der Versenkung holt, glaubt an ihre zeitgenössische Wirkmacht.

Auffallend heutig an «Die Frauen von Trachis» von Sophokles in der Regie von Jossi Wieler am Schauspielhaus Zürich sind zwei dominierende Komponenten, die zudem ineinandergreifen und sowohl am Anfang als auch am Ende Frauen zum Schluss gelangen lässt, bei aller Unvorhersehbarkeit des Schicksals stünde über das ihre unabwendbar fest, dass es «unselig und schwer» sei. Die eine zentrale Komponente des zwischenmenschlichen Umgangs mit sehr deutlicher Verwandtschaft zu aktuellen Diskursen besteht aus der selbstverständlichen Anspruchshaltung der Vertreter einer Mannosphäre, die Befehlsgewalt über sämtliche Lebensbelange stünde ihnen naturgemäss ganz alleine zu. Diese für Zusammenhänge nachgerade blinde Daseinsbetrachtung legt nahe, sich über allfällige Konsequenzen keinerlei Gedanken machen zu müssen, geschweige denn sogar nach dem finalen Fall in die Misere, irgend eine Art Schuld anzuerkennen oder gar das dorthin führende Verhalten darüber infrage zu ziehen. Viel lieber verwandelt er das neuerdings nicht mehr ignorierbare Leid in eine scheinbar absichtslose Opferumkehr der effektvollen Selbstmitleidigkeit. Und dies unabhängig von Alter und sozialem Status. Die zweite sehr heutige Komponente betont den freihändigen Umgang mit Tatsachen und die (geschriene) Unbedingtheit, mit der aus losen Annahmen lauthalse Anwürfe werden, die in ihrer kompromisslosen Absolutheit keinen Widerspruch dulden. Erst bellen, dann (vielleicht) denken. Oder eben – und hier schliesst sich ein Kreis der beiden Ebenen – umso eindringlicher an der althergebrachten Struktur, dem auf Machtausübung und Unterdrückung basierenden Verhalten festhalten und seis ganz offensichtlich unnatürlich krampfhaft. Also aus einer Verlustangst, die nicht erst durch einen sich anbahnenden Tod manifest wird. Insofern weist der antike Text durchaus Parallelen zu einem sich verselbstständigenden Mechanismus heutiger Shitstorms auf.

«Die Frauen von Trachis», bis 7.1., Schauspielhaus, Zürich.