Gerechtigkeit und Rechtsstaat

 

Mit dem SP-Ständeratskandidaten Daniel Jositsch sprach P.S. vor allem über seine Arbeit in der öffentlichen Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und über das Verhältnis der Schweiz zur EU.

 

Dass Sie als Sozialdemokrat sozial sind und sich als Präsident des Kaufmännischen Verbandes der Schweiz für gute Arbeitsbedingungen und Löhne einsetzen, liegt auf der Hand. Was können vor allem nichtlinke WählerInnen von Ihnen sonst noch erwarten?

Daniel Jositsch: Ich bin im Sinne der Stallnähe kein klassischer Sozialdemokrat. Soziales Engagement ist für mich eine Verbindlichkeit, die faktisch in unserer Verfassung steht. Ich befasste mich im politischen Alltag wenig mit Sozialpolitik, intensiv allerdings mit dem klassischen SP-Thema Bildung. Meine Hauptthemen neben der Bildung und Angestelltenpolitik sind öffentliche Sicherheit, Justiz, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Das wird mir einerseits vorgeworfen, anderseits zugute gehalten. Die Schwerpunkte führe ich auch auf meine Herkunft und auf meinen Werdegang zurück. Mein Grossvater und mein Vater führten ein KMU. Während meiner Mittelschulzeit protestierte ich nicht, sondern studierte recht unpolitisch Rechtswissenschaften an der Hochschule St. Gallen – ich bin immer noch Mitglied einer konservativen Studentenverbindung. Im Militär stieg ich auf und bin im Rang eines Oberstleutnants. Da sich meine Militäransichten von denjenigen der Fraktion teilweise unterscheiden, arbeite ich bewusst nicht in der Sicherheitspolitischen Kommission mit. Hier sollen ParlamentarierInnen die Partei vertreten, die die Hauptrichtungen der innerparteilichen Diskussion prägen. Dafür wird akzeptiert, dass ich oft anders stimme.

Zusammen mit meinem abgeschlossenen Rechtsstudium und dem Anwaltspatent, dem später die Professur für Strafrecht folgte, war alles für eine unpolitische Karriere angerichtet. Dass es anders kam, lag zunächst an der Umwelt, deren drohende Zerstörung mich politisierte. Ich trat zunächst den Grünen bei und vertrete ihre Umweltpositionen, die in der Zwischenzeit meistens auch jene der SP sind, immer noch mit Überzeugung. Dass Umweltpolitik nicht zu meinen Schwerpunktthemen im Nationalrat gehört, liegt an meinen fehlenden technischen Fachkenntnissen. Geblieben ist mir aus meinem Werdegang das Verständnis für verschiedene Seiten. Ich eigne mich darum gut als Brückenbauer. Für einen Ständerat ist das eine nützliche Eigenschaft.

 

In Ihrem politischen und beruflichen Schwerpunkt, dem Strafrecht, fallen Sie durch klare Stellungnahmen auf. Sie kritisierten Richter für zu milde Urteile, wehren sich gleichzeitig vehement für die Einhaltung der Menschenrechte. Sie vereinen den linken und den rechten Flügel der Partei sozusagen in sich selber. Glauben Sie an die Wirksamkeit von Strafen?

Das Strafrecht und die Sicherheit werden in der Öffentlichkeit und in der SP intensiv und auch emotional diskutiert, mit Minder- und Mehrheiten, und ich finde mich je nachdem auf beiden Seiten. Ich glaube – und das kann man je nachdem als links oder rechts interpretieren – an Gerechtigkeit und an den Rechtsstaat. Dazu ein Beispiel: Ich verteidigte Whistleblower, weil ihre Funktion wichtig ist. Als im Zusammenhang mit dem ehemaligen Nationalbankpräsidenten Philipp Hildebrand Christoph Blocher als Whisteblower angeklagt wurde, sprach ich mich für ihn aus. «Warum gehst Du hin und verteidigst Blocher», wurde ich kritisiert. Es ging mir nicht um die Person Christoph Blocher, sondern um die Verteidigung des rechtsstaatlichen Prinzips. Das ist für mich die entscheidende Basis.

Strafe ist ein Teil der Reaktion der Gesellschaft auf Fehlverhalten. Ich glaube nicht, und darin unterscheide ich mich von vielen, die auch Strafe fordern, dass Strafen die Menschheit ändern. Probleme kann man nicht mit Hilfe des Strafrechts alleine lösen. Das Strafrecht setzt im besten Fall klare Grenzen und führt dazu, dass sich die Bevölkerung einigermassen zufrieden oder gerecht behandelt fühlt. Das mag archaisch tönen. Aber es ist nicht viel mehr und trotzdem eine wichtige Funktion. Eine Funktion, die man nicht übertrieben einsetzen darf. Ich schrieb letztlich – und erst noch in der ‹Weltwoche› – einen Artikel, für den man mich kritisierte: Ich erläuterte, dass man bei der Rassendiskriminierungsstrafnorm aufpassen muss. Ich verteidige diese Strafnorm seit 20 Jahren, aber ich warnte stets davor, sie als politische Keule einzusetzen. Mit der Rassismusstrafnorm bekämpft man den Rassismus nicht. Man zieht mit ihr einen Strich, sagt, bis hierher und nicht weiter, aber das Problem kann man so nicht lösen.

Ich finde das Strafrecht wichtig, aber seine Einsatzfähigkeit ist limitiert. Mit dem Strafrecht kann man die Menschheit nicht moralisch steuern, man kann dieses Recht nur zum Schutz einsetzen. Das kann man beim Sexualstrafrecht sehr gut zeigen. Früher wollte man damit die Menschheit moralisch steuern. Heute hat man es entrümpelt, das Strafrecht konzentriert sich auf den Schutz von Minderjährigen und vor Gewalt und kümmert sich nicht darum, was Erwachsene freiwillig miteinander treiben. Es besteht die Gefahr, dass wir in anderen Bereichen (etwa beim Rassismus oder klassisch beim Drogenkonsum) die Moral mit dem Strafrecht steuern wollen. Das geht nicht.

 

Sie warfen den Richtern oft vor, den Strafrahmen nach oben nicht auszunutzen, forderten sie also auf, höhere Strafen zu verhängen.

Diese Frage erfordert eine doppelte Antwort. Einerseits war es eine Antwort auf die Forderung vor allem der Rechten, die Strafen heraufzusetzen. Ich erwiderte, das bringt nichts, wenn die RichterInnen den bestehenden Strafrahmen nicht ausnutzen. Ich bin inhaltlich nicht generell für höhere Strafen. Aber es ist rechtsstaatlich fragwürdig, wenn die RichterInnen mit ihren Urteilen den Gesetzgeber korrigieren. Dieser hat für jedes Verbrechen einen Strafrahmen festgelegt, den die RichterInnen je nach Schwere des konkreten Falles anwenden sollen. Weigern sie sich auch bei schweren Vergehen – etwa, weil es sich um einen Ersttäter handelt –, zumindest an den oberen Rand der möglichen Strafe zu gehen, führt dies über kurz oder lang dazu, dass der Gesetzgeber Mindeststrafen festlegt. Das verunmöglicht dann eine milde Strafe in Fällen, in denen sie berechtigt wäre. Wenn das Strafrecht wirken soll, ist eine konsequente Bestrafung entscheidend und keineswegs eine Erhöhung der Strafen. Zur Wirksamkeit gehört auch, nur Strafnormen einzuführen, die man in der Praxis auch umsetzen kann oder will – auch hier lässt die Bestrafung des Drogenkonsums als falsches Beispiel grüssen.

 

Sie unterstützten aktiv die Initiative, die für die Raser höhere Strafen verlangte. Davon hörte ich lange nichts mehr.

Das liegt an Ihnen. Das war eine sehr erfolgreiche Kampagne, die sich zu 100 Prozent durchsetzte. Vor wenigen Jahren starben noch über 1000 Menschen auf den Schweizer Strassen. Heute sind es rund ein Viertel davon. Ich sagte mir, wenn man sich um Gewaltdelikte kümmert, dann bemüht man sich zweckmässigerweise um den Bereich, in dem sie am häufigsten vorkommen: Die Bedrohung durch Geschwindigkeitsexzesse und Alkohol am Steuer sind zwei Bereiche, in denen sich viel machen liess. Wir diskutierten lange mit Verkehrspsychologen. Ihre Antworten waren klar: Bei Raserdelikten existiert nur das Mittel der konsequenten Strafe, präventive Konzepte gibt es kaum. Ähnlich war die Entwicklung bei der FIAZ.

Bei der Generation meiner Eltern etwa war Autofahren und Trinken noch kaum ein Thema. Man stieg auch nach ein paar Gläsern ins Auto und fuhr nach Hause. Wurde man erwischt, zahlte man die paar Franken, vergleichbar einer Parkbusse. Heute riskiert man einige Monate Ausweisentzug und ist strafrechtlich registriert. Auf dieses Risiko lassen sich die meisten Menschen nicht ein, sie machen vorher ab, wer nicht trinkt und nach Hause fährt.

Auch hier sehe ich eine zentrale Rolle in der Funktionsweise des Strafrechts. Geschützt wird der Unbeteiligte, und es wird nicht die Moralkeule gegen den Alkohol geschwungen. Strafrechtlich darf jeder soviel trinken, wie er will, solange er nicht fährt.

 

Nicht nur durch ‹Carlos› wird das Prinzip der Resozialisierung im Jugendstrafrecht in Frage gestellt.

Strafen benötigt man im Jugendstrafrecht für einen ganz kleinen Teil der Betroffenen als letzte Möglichkeit. Aber generell hat man es mit Jugendlichen zu tun, die nach den richtigen Massnahmen ein normales Leben als Erwachsene führen können. Wenn man einen 16-Jährigen, wie im Falle von München gefordert, für zehn Jahre in ein Loch steckt, kommt mit 26 Jahren sicher kein besserer Mensch heraus. Von daher finde ich es nur dumm, wenn die Gesellschaft hier falsch reagiert. Die gegenwärtige Entwicklung erlebe ich als etwas vom Schockierendsten in meiner politischen Zeit. Im Bereich des Jugendstrafrechts, wo mit grossem gesellschaftlichem Wohlwollen gearbeitet werden konnte, wird nun alles in Frage gestellt, fängt man an, über Frankenbeträge zu diskutieren, setzt man Limiten. Dies alles ohne jede demokratische Legitimation: Einfach weil eine Stimmung so wahrgenommen wird. Es ist eine schlimme Form des vorauseilenden Gehorsams, nur weil die Verantwortlichen es teilweise nicht aushalten, der veröffentlichten Meinung Stand zu halten.

 

Sie waren in zwei Initiativen (Berufsverbot für Pädophile, Ausschaffungsinitiative) der SP-Mann, der an vielen Podien gegen die SVP-Politiker antrat. Warum taten sie sich das an, obwohl im Saal meist nur von Gegenteil Überzeugte sassen?

Der Spass hielt sich in engen Grenzen, aber ich bin für strafrechtliche Themen zuständig, und so war es logisch, dass ich es machte. Die wichtigste Botschaft, die ich versuchte, an die Leute zu bringen: Die Bundesverfassung eignet sich schlecht, um ein Zeichen zu setzen. Selbst wenn man die Wut als berechtigt ansieht.

 

Wir stehen wieder vor einem Wahlkampf, bei dem Asyl eine grosse Rolle spielen könnte. Ihr Mitkandidat von der SVP, Hans-Ueli Vogt, argumentiert auf zwei Ebenen: Erstens erklärt er praktisch alle Flüchtlinge zu Wirtschaftsflüchtlingen und damit zu ‹falschen› Flüchtlingen. Und zweitens führt er aus, dass das Flüchtlingswesen mit den Schlepperbanden ein grosses und illegales Geschäft sei.

Diese Argumentation wird sehr rasch zynisch. Nicht jeder, der am Verhungern ist und sein Brot ehrlich verdienen will, ist ein Wirtschaftsflüchtling. Der ist einfach am Verhungern und sucht eine Lösung. Dass sich ein Schlepperwesen herausbildet, betrachte ich als logisch. Wenn man alles und alle in die Illegalität drängt und gleichzeitig im Tessin eine Mauer aufziehen will, muss man nicht staunen, wenn die Betroffenen versuchen, die Mauer illegal zu umgehen. Ich verstehe immer noch nicht, warum wir das Botschaftsasyl nicht wieder einführen. Warum muss jemand unter vielen Gefahren in die Schweiz reisen, nur um hier zu erfahren, dass er kein Asyl erhält, wenn es in der Botschaft auch möglich wäre? In der Sache liegt es auf der Hand, dass eine gesamteuropäische Flüchtlingspolitik die Lasten gleichmässiger verteilt. Dabei müssen wir anerkennen, dass die Schweiz nicht so schlecht dasteht.

 

Zu welchem Flügel gehören Sie in der EU-Frage?

Ich bin ein realpolitischer Europabefürworter. Verschiedene wichtige Themen, wie Umweltprobleme zum Beispiel, lassen sich nur international lösen, und darum finde ich die EU ein gutes Projekt. Ich bin aber auch der Meinung, dass man jedes Problem auf der tiefstmöglichen Stufe behandelt, so wie wir es in vielem in der Schweiz angehen. Zentralistische Lösungen neigen rasch zur Bürokratie, und davor ist die EU nicht gefeit. Umgekehrt ist es logisch, dass eine Organisation nach wenigen Jahren noch nicht perfekt funktioniert.

 

Für Sie steht also ein rascher Beitritt in die EU nicht zur Diskussion?

Die Schweizer Bevölkerung sagte in einer Abstimmung klar Nein. Insofern müssen wir realpolitisch darüber nicht diskutieren. Die Bilateralen waren tatsächlich viel erfolgreicher, als ich es mir in den 1990er-Jahren vorstellte. Die Schweiz hatte eine sehr gute Position. Auch weil wir die Bilateralen mit einer EU aushandeln konnten, die vorwiegend aus Nachbarländern bestand. Mit dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative sind die Bilateralen gefährdet, wir müssen unsere gute Position wieder zurückkaufen. Nun aber in einer EU von 28 Ländern, von denen viele sich kaum für die Schweiz interessieren. Bleiben wir bei unseren Forderungen bei der Einwanderung, kann es zu einem Bruch der Bilateralen kommen und damit zu spürbaren wirtschaftlichen Folgen. Das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative könnte sogar dazu führen, dass der Eintritt in die EU und damit auch eine Preisgabe von Autonomie rascher eine ernsthafte Option wird, wenn die Bilateralen für die EU keine Alternative mehr sind. Ich bin aber dezidiert der Meinung, dass es jetzt darum geht, die Bilateralen zu retten.

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