Gemeinsam voran – mit Pausen

«Ob in Zwickau, Stockholm, am Amazonas oder anderswo», wünscht Jakob Springfeld von der Grünen Jugend, «schliesst euch zusammen gegen die Missstände der heutigen Zeit, macht Druck, verbündet euch». Es ist einer von vielen Aufrufen zum Handeln in drei mehr oder minder bunt gemischten Sammelbänden aus Hamburg. Dazu aus Kalifornien ein kluger Essay über sorgsames Nichtstun.

 

Hans Steiger

Bei den drei primär auf deutsche Verhältnisse ausgerichteten Publikationen, die den gleichen Verlagsort und trotz ihrer Verschiedenheiten eine ähnliche Zielrichtung haben, muss nicht alles gelesen werden, um die Botschaft zu verstehen: Wir sollten die Gesellschaft und unser Verhalten rasch und radikal ändern – die Welt braucht es!

 

Nicht nur eine Generation versagte

Die erste der drei Textcollagen wäre wohl an der Form gescheitert, wenn die Beteiligten den Wunsch des Herausgebers befolgt und wirklich «Briefe an die Erde» geschrieben hätten. Nur wenige taten das. Einige wählten einfach passendere Adressaten, zum Beispiel noch ungeborene Urenkelinnen, denen ein bei ‹Scientists for Future› und ‹Parents for Future› aktives Paar gleich zwei Briefvarianten ins Buch schrieb – eine für den Fall einer relativ erfolgreichen Wende und eine für den Fall des völligen Versagens der derzeit lebenden Generationen. Was wer wem hinterlässt, ist häufig Thema. Die junge, dank ‹Fridays for Future› in Deutschland prominente Luise Neubauer schickt aber warnend voraus, bei ihr komme «keine Generation gut weg». Sie sieht die Inkonsequenzen bei sich selbst wie in ihrem Umfeld, weist auch auf frühere Entwicklungen hin. «Generationen vor uns haben, wissentlich und unwissentlich, eine Welt für uns vorbereitet, die auf den ersten Blick eine Offenbarung und auf den zweiten Blick eine Zumutung ist.»

Molina Gosch, der in Berlin seit 2018 regelmässig «Klimawachen» organisierte, hatte die dort auftretende Neubauer nach der persönlichen Motivation für ihr Engagement gefragt und danach beschlossen, dies künftig bei allen dort Referierenden zu tun. Eine gute Idee, denn nun sind diese Antworten der spannende Kern vieler Texte, zumal das Spektrum der Beteiligten recht breit ist. ARD-Wettermoderator, Kabarett-Mediziner, Fitness-Influencerin … Das erlaubt Einblicke in völlig fremde Welten. Für mich besonders aufschlussreich war der Weg von Friederike Schmitz, die sich als Philosophin mit Tierethik befasst hatte und von dort her zur Klimagerechtigkeitsbewegung kam. Sie sorgt sich um die Folgen der Fehlentwicklungen nicht nur für Menschen und hinterfragt neben der Mobilität weitere Gewohnheiten. «Auch in linksaktivistischen Gruppen gilt vieles als normal und wird immer wieder als unangreifbar verteidigt, was eigentlich zerstörerisch, gewaltvoll und ungerecht ist.» Der brutale Umgang mit den Tieren ist nur eines der Exempel. Restbestände von Sexismus oder Rassismus kommen hinzu.

Daneben gibt es oberflächliche Statements, auch heikle. Rückkehr zur Natur, zu «Ahnen», deren Traditionen? Doch insgesamt fühlte ich mich als Leser in guter Gesellschaft. Dass der Herausgeber bei den Bündnisgrünen engagiert ist, wird spürbar. Aber genügt die Stärkung einer Partei? Hermann Ott zum Beispiel, der Mitglied des Bundestages und als Umweltwissenschaftler in verschiedensten Instituten und Verbänden aktiv war, betont die Notwendigkeit des umfassenden Einsatzes für fällige gesellschaftliche Transformationen. «Wenn sich ein Fenster für politische Quantensprünge und Paradigmenwechsel öffnet, kann auch der Platz in der Politik der richtige sein.»

 

Rot-Rot-Grün, aber «bunt und frei»

Beim zweiten Buch steht die Politik fast zu sehr im Zentrum. Obwohl es breiter ansetzt, «Menschen aus unterschiedlichen Bereichen zusammenbringen» und damit laut Vorwort «die politische Blase» sogar platzen lassen will, ist «Verbündet euch!» primär ein Plädoyer für «progressive» Rot-Rot-Grün-Koalitionen nach den 2021 in Deutschland anstehenden Wahlen. Grün-Rot-Rot als derzeit fast wahrscheinlichere Variante kommt ebenfalls vor, aber die Akzente setzende «Denkfabrik» wurde in der SPD-Bundestagsfraktion gegründet, «um abseits der Tagespolitik» die Perspektiven sozialdemokratischer Politik zu profilieren. Nicht nur die Frontstellung gegen extrem rechte sowie neoliberale Positionen ist deutlich, auch «Grün-light als machtpolitische Option für eine schwarz-grüne Koalition» gerät ins Visier. Regina Kreide etwa kritisiert als Politikwissenschaftlerin eine «konservativ-grüne Erzählung, die bürgerliche Freiheiten nur auf Basis des nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums und technischen Fortschritts für zukünftige Generationen gesichert sieht». Unser enormer Ressourcenverbrauch ist mit konsumorientierten Zukunftsversprechen kaum zu senken. Links ortet sie «eine Leerstelle», was die alternative Vision betrifft. Nun wäre die Zeit da, in der man «die kleinen linken Erzählstränge» aufgreifen und diese «zu einem grösseren Ganzen weiterspinnen» müsste. Hier neigte ich zu Applaus. Oft störte mich der ungut bekannte Ton selbstsicherer Macher. So ziehen zwei Gewerkschafter gegen jene ökologisch motivierten Kreise ins Feld, welche bei Industrie und Lohnarbeit «fremdeln» und mit einer «wundersamen Wandlung» aus der Realität aussteigen wollten. «Wer nicht zurück in eine romantisierte Subsistenzwirtschaft will, muss Wertschöpfung weiterhin auch industriell, zukünftig aber klimaneutral organisieren.»

Zu viele Beitragende wissen schon allzu genau, wie sozial-ökologische Transformation zu funktionieren hat. Ich stellte mir die «bunte solidarische und freie Gesellschaft» offener vor. Aber es gibt im Begleitchor der mit klassischem Politjargon operierenden Parteileute auch andere Töne. Der von mir in den Kopfzeilen zitierte, beim Klimastreik aktive Schüler etwa erhofft sich aus den weltweiten Bewegungen auf allen Ebenen «eine neue Utopie». Sophie Sumburane, die als politisch aktive Kulturfrau den ersten Text liefert, stellt vorab Fragen. Immer mehr Menschen gelangten angesichts sich häufender Krisen zur Erkenntnis, dass es ‹so› nicht mehr geht. «Und was spricht eigentlich gegen Träumereien?» Da antworten Politprofis oft zu schnell. Kunst jedoch kann «den idealistischen Träumer als Realisten dastehen lassen» und sie erlaubt, alle Ideen zu denken. 

 

Trotz allem noch immer Hoffnung

Wer die Einleitung von «Act now!» hinter sich hat, dürfte eher erschlagen als ermutigt sein. Die nun neunte Veranstaltungswoche, die in Hamburg als «Lesen ohne Atomstrom» durchgeführt wurde, thematisierte nicht nur die existenziellen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: Klimawandel, Artensterben, nukleare Verseuchung, dazu Pandemien, «die Elendstrecks Zigmillionen Geflüchteter». Sie zeigte auch die «Niederlagen des rationalen Menschen». Hier zitieren die Veranstalter den Beitrag der Literatur-Nobelpreisträgerin und Tschernobyl-Protokollantin Swetlana Alexijewitsch, die eine zunehmend offensichtliche «Katastrophe des Bewusstseins» beklagt. Alles habe sich verändert. «Bis auf uns!» Es ist gut, dass dieser erste Text der Sammlung ihr Kernanliegen hervorhebt, denn im Zuge der Klimadebatte starten neue AKW-Offensiven, um unseren wachsenden Energiehunger zu stillen. Später werden mit Blick auf Japan noch Fukushima und Hiroshima verknüpft. Mit ‹zivilem› Material lassen sich Atomsprengköpfe für eine «Hölle auf Erden» bestücken. Also ist im aktuellen Aufrüstungswahn auch die Ächtung von Atomwaffen als vordringliches Postulat in Erinnerung zu rufen.

«Angesichts des destruktiven Beharrungsvermögens unserer Generation» werden neue und jüngere Bewegungen begrüsst. Allerdings kommen relativ Wenige von dort zu Wort. Franziska Wessel war neun, als das Pariser Klimaabkommen unterschrieben wurde, die vergangenen zwei Jahre waren von ihrem Einsatz für dessen Umsetzung geprägt. Sie empfindet ihn tatsächlich als Kampf «gegen die alten weissen Männer», deren Politik die Zukunft massiv gefährde. Diese seien noch in der Lage, auf eine Krise, die konkret da ist, schnell zu reagieren, aber unfähig, Vorsorge zu betreiben. So sind sie zwar verantwortlich für kommende Katastrophen, werden aber «das Schlimmste davon nicht mehr erleben». Vielleicht zu einfach, zu pauschal. Doch wer kann die im Kern erschütternde Anklage bestreiten?

Offen bleibt, ob der «Clash of Generations», den der Titel des Vorworts beschwört, «vom Protest zur Revolte» führt. Immerhin scheint in und zwischen den Zeilen der meist älteren Bekannten im Buch frisch geweckte Hoffnung auf. Dennis Meadows verweist auch auf die Zuversicht seiner Frau Donella, der Hauptautorin der berühmten Studie über «Grenzen des Wachstums» von 1972. Mit neuen Technologien lasse sich Zeit gewinnen, um die nötigen Veränderungen vorzunehmen. Gleiches gelte für wirtschaftspolitische Initiativen. Doch das reicht nicht. «Wir brauchen keine neuen Instrumente, sondern neue Ziele.» Seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Eigentlich fast schon ein Wunder, dass Meadows und all die andern noch nicht resigniert verstummt sind: Ai Weiwei, Beate Klarsfeld, Vandana Shiva, Jean Ziegler …

 

Widerstand aus dem Silicon Valley?

«Act now!» – und dann «Nichts tun»? Krasser könnte der Kontrast kaum sein. Auch optisch scheinen die Bücher aus verschiedenen Welten zu kommen, aber sie ergänzen sich ideal. Für erschöpfte Aktive könnte das im Original schon 2019 publizierte Buch von Jenny Odell höchst hilfreich sein. Doch die Lektüre erfordert aufmerksame Ruhe. Um das Innehalten, wirklich erholsame Pausen, geht es denn auch zuerst. In einer ‹Zeit›-Rezension hat Eva Biringer das kluge Buch so charakterisiert: «Es beginnt als Selbstratgeber und wandelt sich zum politischen Manifest.» Das mag für hyperpolitisierte Menschen bei fast dreihundert Seiten ein sehr langer Weg sein. Trotzdem würde ich keine Abkürzungen empfehlen.

Anfangs hatte auch ich Mühe: allzu US-amerikanisch, die Autorin im Zentrum des Silicon Valley als Dozentin mit digitalem Design befasst, stets ihre Rolle als Künstlerin betonend. Umso stärker wirken Fragen wie diese: «Was bedeutet es, digitale Welten zu erschaffen, während die wirkliche Welt vor deinen Augen zerfällt?» Nötig sei «Widerstand an Ort und Stelle». Den aktuellen Beispielen fügt sie «Ehrfurcht gebietende» Streikbewegungen bei, mit denen Hafenarbeiter in San Francisco zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ein brutales Ausbeutungsregime brachen. Das waren klare Frontstellungen, harte Kämpfe. Aber wie sich wehren gegen eine Vielfalt diffuser globaler Bedrohungen? Wer schafft es, inmitten einer Flut bedrängender Informationen, Desinformationen und Ablenkungen eine klare Position einzunehmen, mit anderen aktiv zu sein und zu bleiben? Odall sucht auf ihre ganz eigene Art nach Wegen, mit Exkursen in antike und jüngere Philosophie zum Beispiel, aber auch Anmerkungen zur – nun zum Glück nicht mehr ganz – tagesaktuellen Politik: Eben hatte das Entsetzen über eskalierende Hassreden in vermeintlich sozialen Medien zu ersten Aufrufen geführt, «unseren Präsidenten von Twitter auszuschliessen» …

 

Reflexionen in einem Rosengarten

Intensiv setzt sie sich mit «Aufmerksamkeitsökonomie» auseinander. Wer profitiert davon, uns medial «in einer angstbeladenen Gegenwart festzuhalten» und der physischen Realität noch mehr zu entfremden? Was bedeutet das alles «längerfristig für unsere Neigung, nach Kontext zu suchen, oder für unsere Fähigkeit, Kontext überhaupt zu verstehen»? Der von ihr bevorzugte Ort der Reflexion ist ein öffentlicher Rosengarten. «Nichts tun» geht dort am besten, Naturerleben wird ihr wichtig. Eindrücklich beschreibt sie, wie aus den anonymen «Vögeln» vertraute Bekannte wurden. Sie braucht nur fünf Minuten, um vom Computer zu ihnen zu kommen, und «nach den Wahlen» ging sie den Weg fast jeden Tag. Es war «keine wirklich bewusste Entscheidung», eher «ein intuitiver Drang», der sie anfänglich  irritierte. Ist das – schöner Garten versus erschreckende Welt – eine zu billige Überlebenstaktik? Nein, dieses Nichtstun war «weder Luxus noch Zeitverschwendung, sondern notwendiger Teil sinnvollen Denkens und Sprechens». Sie erschrickt, als sie erfährt, dass das plötzlich so wertvolle Gebiet einst beinahe mit Eigentumswohnungen zugepflastert worden wäre, «aber ich bin nicht überrascht». Nur gemeinsamer Widerstand gegen die kapitalistische Normalität hatte diese Zerstörung verhindern können. Ein nicht exklusiver und im Buch entsprechend sorgfältig erklärter «Bioregionalismus» könnte ihn weiter stärken. Sogar bei den obligaten Schlussverneigungen vor dem Anhang vergisst sie nun jene nicht, «die für all die öffentlichen Räume zuständig sind, in denen ich meine Gedanken gesammelt habe». Speziell dankt sie «den städtischen Angestellten und Ehrenamtlichen, die den Rosengarten pflegen». Da bin ich mir sicher: Das ist keine leere Floskel.

 

Liebe Erde. 33 Briefe, um unsere Welt zu schützen. Herausgegeben von Molina Gosch. Atlantik, Hamburg 2021, 239 Seiten, 28.90 Franken.

Verbündet euch! Für eine bunte, solidarische und freie Gesellschaft. Denkfabrik-Flugschrift. Nautilus, Hamburg 2021, 312 Seiten, 26.90 Franken.

Act now! Reflexionen in existenziellen Zeiten. Hrsg. von Lesen ohne Atomstrom. Assoziation A, Hamburg 2020, 213 Seiten, 23.90 Franken.

Jenny Odell: Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. C.H. Beck, München 2021, 296 Seiten, 33.90 Franken.

 

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