«Geistige Mobilität ist die Erfolgsgeschichte der Menschheit»

Roxane Steiger

 

Stadtplaner und Professor emeritus für Verkehrsplanung an der Technischen Universität Wien Hermann Knoflacher behandelt seit Jahrzehnten Städte, die an der «Autokrankheit» leiden. Wie menschengerechte Städte aussehen könnten, erzählt er im Gespräch mit Roxane Steiger. 

 

Herr Knoflacher, Sie setzen sich seit Jahrzehnten für menschengerechte und gesunde Städte ein. An welcher Krankheit leiden denn die Städte heutzutage? 

Hermann Knoflacher: An der Autokrankheit. Das Auto ist nicht nur ein Gegenstand, der aussen bleibt. Dadurch, dass der Mensch im Auto den Kontakt zum Boden verliert und gleichzeitig unglaublich viel Gewalt und Kraft für Fortbewegung bekommt, spielen sich in seinem Kopf interessante Sachen ab. Ich habe vor fast 50 Jahren entdeckt, wo das Auto im Kopf sitzt. Es sitzt in der tiefsten evolutionären Ebene unseres Hirns, also dort, wo Energie verrechnet wird. Diese Ebene beeinflusst alle darüberliegenden Ebenen: Entweder hat man Energie oder man hat keine. Dort sitzt das Auto und lenkt unser Denken und unsere Wahrnehmung. Das heisst, wir sehen die Welt nicht mehr so, wie sie ein Mensch sehen müsste oder gesehen hat, sondern wir sehen sie so, wie es das Auto wünscht. Ansonsten würde die Welt nicht so aussehen, wie sie heute aussieht. Das technische Verkehrssystem ist ein künstliches, von Menschen gemachtes Hirnprodukt. Dieses Produkt tötet Menschen und vergiftet die Umwelt. Das hat seinen Grund in der Tatsache, dass nicht mehr der Mensch im Hirn die Aussenwelt steuert, sondern es ist das Auto, das den Menschen zum Autofahrer macht. 

 

Woran liegt es, dass sich das Auto derart in unserem Gehirn verankert hat? 

Weil wir damit eine Hybris erleben. Wir sind ein seit sechs Millionen Jahren aufrechtgehendes Lebewesen. Wir bestehen zu zwei Dritteln aus Wasser, das im Gleichgewicht gehalten werden muss. Der Wunsch des Menschen ist immer gewesen, diese Situation zu überwinden. Deshalb hat er mit seinem Hirn technische Geräte entwickelt. Zunächst solche, wo noch eigene Körperkraft zur Bewegung beiträgt, und dann hat er dank unserer technischen Innovationsfähigkeiten entdeckt, dass man dazu auch externe Energie nutzen kann. Diese Erkenntnis ist im Automotor explodiert. Menschen können fast bewegungslos im Auto sitzen und kommen gleichzeitig mit unglaublicher Geschwindigkeit voran. Dafür werden sie noch bewundert und finanziell unterstützt. Der Mensch, der ein Autofahrer wird, hat damit auch den Wunsch, die Städte danach zu bauen. 

 

Sie sagen auch, dass der Mensch, solange er im Auto sitzt, kein Mensch sei. Wieso entmenschlicht uns das Auto?

Es ist völlig unmenschlich, den Lebensraum der eigenen Kinder zu zerstören. AutofahrerInnen tun das. Es ist absolut unmenschlich, andere Menschen bei ihrer Fortbewegung umzubringen oder sich selbst zu töten, weil man in eine Welt geraten ist, für die man evolutionär nicht ausgestattet ist. Der Autofahrer hat zudem ganz andere Flächenansprüche. Wenn Sie in den öffentlichen Raum gehen, werden Sie auf die Räume der anderen Menschen Rücksicht nehmen. Der Autofahrer besitzt riesige Räume nur für sich alleine. Ein Autoabstellplatz nimmt im Mittel elf Personen die freie Mobilität. In einer menschlichen, kultivierten und zivilisierten Gesellschaft dürfte das nicht sein. Das heisst, die menschliche Zivilisation und Kultur hat sich aufgrund der tiefen Lage des Autos in den Gehirnen in diese Richtung entwickelt. Wir haben Bauordnungen, die die Priorität des Autos vor allen anderen notwendigen Bedürfnissen des menschlichen Lebens festschreiben. In der Bauordnung steht zum Beispiel, dass Sie beim Bau einer Wohnung auch einen Autoabstellplatz vorsehen müssen. Es ist jedoch nicht zwingend, dass Sie Platz für die freie Bewegung der Kinder schaffen müssen. Es ist auch in wirtschaftlichen Analysen nachgewiesen, dass Haushalte für das Auto mehr ausgeben als für Kinder. 

 

Mit einem Holzrahmen in der Grösse eines Autos, das Sie Gehzeug nennen, spazierten Sie durch die Stadt. Was wollen Sie damit aufzeigen?

Diese Geschichte ist mir im Auto eingefallen, als ich im Stau sass. Ich habe reflektiert, wie viel Platz ich hier beanspruche, ohne mich zu bewegen. Dann ist mir eingefallen, dass im Paragraph 1 der österreichischen Verkehrsordnung steht, dass die Strasse ein öffentlicher Raum ist, der von allen zu denselben Bedingungen genutzt werden darf. Da dachte ich mir: Wenn ich mit dem Fahrzeug so viel Platz beanspruche, dann darf ich als Fussgänger mit einem Gehzeug ebenfalls so viel Platz beanspruchen.

 

Industrie und Politik setzen derzeit auf Elektromobilität. Elektroautos sind ruhiger und reduzieren den ökologischen Fussabdruck. Ist Elektromobilität ein wichtiger Bestandteil der Verkehrswende?

E-Mobilität ist eine Weiterfahrt in dieselbe Sackgasse. Es ist eine geschickte Täuschung, bei der man die Umwelt mit gutem Gewissen zerstört. Ich bin Anhänger der E-Mobilität, aber nur der erfolgreichen E-Mobilität der menschlichen Gesellschaft. Wir haben ja zwei Formen der Mobilität. Entweder sind wir physisch oder geistig mobil. Die geistige Mobilität ist die Erfolgsgeschichte der Menschheit, da wir physisch begrenzt mobil sind. Wären wir geistig so begrenzt mobil, wären wir viel dümmer. Das Auto macht uns auch tatsächlich dümmer. Es ist nicht klug, aufs Land hinauszuziehen und später über den Stau zu klagen. Wenn man klug wäre, würde man sich überlegen: Was sind die Folgen, wenn ich aus der Stadt hinausziehe? Irgendwann wird dieser Energiefluss nicht mehr vorhanden sein, also ist es klüger, wenn ich mir in meiner Gemeinschaft in der Nähe der Stadt einen Platz zum Wohnen suche.

 

Aber dabei handelt es sich doch auch um unmittelbare Zwänge. In der Stadt zu wohnen wird immer teurer, also ziehen die Menschen aus finanziellen Gründen aufs Land.

Das hat mehrere Gründe. Es beginnt damit, dass der lebenserhaltende Boden zu billig und rechtlich nicht geschützt ist und dass die gesellschaftlichen Leistungen in den Städten in private Gewinne fliessen, um nur zwei zu nennen. Auch handeln wir kurzsichtig und vergessen die Folgekosten falscher Standortwahl. Auch Politik und ExpertInnen verstehen diese Zusammenhänge nicht. Sonst hätten wir andere Randbedingungen und Gesetze. Sie optimieren einen Teil nach dem anderen. Das führt allerdings nicht zu einem Gesamtoptimum.

 

Unser Zeitalter wird oft als jenes der Vernetzung und Mobilität bezeichnet. Stimmen Sie dem nicht zu?

Vernetzt waren Menschen, seit es eine Gesellschaft gibt, und geistig waren sie früher so mobil, dass sie eine Welt der kurzen Wege geschaffen haben, es waren die Dörfer und Städte. Die gleichen Zwecke mit mehr Aufwand auf längeren Wegen zu erledigen ist suboptimal oder volkstümlich ausgedrückt dumm. Und das als Fortschritt zu bezeichnen ist noch dümmer. Die Stadt- und Raumplanungen übergehen einfach ihre eigenen Gesetze, da sie den Auflagen nicht gewachsen sind und man sie so gewähren lässt. 

 

Wie sieht denn die Verkehrswende aus, die Sie fordern?

Die Verkehrswende muss so aussehen, dass wir das Auto aus den Städten und Dörfern entfernen. Ohne Auto in der Nähe müssen wir wieder miteinander verkehren. Wir beide verkehren gerade miteinander: Sie fragen mich etwas und ich versuche Ihnen eine Antwort zu geben. Der Begriff Verkehr stammt aus der Kommunikation und der Wirtschaft. Im 16. und 17. Jahrhundert verstand man darunter zum einen den Geschäftsverkehr, zum anderen auch den Verkehr in der Gesellschaft. Wenn man zum Beispiel einen Gatten oder eine Gattin gesucht hat, hat man immer geschaut, mit wem die oder der verkehrt. Das war Verkehr zwischen Menschen. Wenn Sie heute von Verkehr sprechen, denkt jeder Mensch ans Autofahren, aber nicht an die Beziehungen in seiner Nähe. Auch zur Natur pflegen wir eine Beziehung. Wenn diese Beziehung fehlt, ist der Mensch nicht zufrieden und sucht sie, indem er mit dem Auto irgendwo hinfährt und so gleichzeitig diese Nähe zerstört.  

 

Welche Rolle räumen Sie dem Auto denn ein? 

Das Auto ist ein Transportmittel. Wenn wir die Grenze dort ziehen, wo das Auto für Warentransporte verwendet wird, die weder von FussgängerInnen noch RadfahrerInnen oder BenutzerInnen des öffentlichen Verkehrs gemacht werden, dann bleibt uns ein Anteil von weniger als zehn Prozent AutofahrerInnen übrig. Das ist das Szenario in der autoregierten Welt. Wenn wir die Welt entsprechend umorganisieren, dass die Autos nicht mehr in der Nähe sind, sondern ausserhalb des Dorfes und der Stadt, dann wird der Anteil kleiner, weil dann die Logistik verbessert werden muss. Früher hat ein Handwerker zum Beispiel immer genau gewusst, was er braucht, um einen Schaden zu reparieren. Wenn Sie heute etwas im Haus reparieren wollen, kommt der Handwerker erstmal schauen, was los ist. Dann fährt er wieder nach Hause, holt ein Werkzeug, muss feststellen, dass etwas fehlt und fährt wieder weg. Es finden also eine Reihe von Fahrten statt, weil man nicht darüber nachgedacht hat, was man wirklich braucht. Ein guter Handwerker wird in der Regel genügend Material mitbringen. Er fährt einmal hin und dann lässt sich die Sache reparieren. Das passiert bei vielen anderen Angelegenheiten auch, weil es eben so leicht ist. Das Hirn denkt nicht gerne. Denken ist ein Aufwand und das Hirn ist egoistisch. Das ist auch gut so, denn ansonsten würde die Energie in andere Körperteile fliessen und man hätte keine grossen Überlebenschancen. 

 

Barcelona gilt als Vorzeigestadt für eine fast autofreie Innenstadt…

Die machen die beste Werbung. Sie haben festgestellt, dass sie diese quadratischen Raumblöcke haben und diese zusammengefasst als Superblock. Alle anderen planen das quasi gedankenlos nach. Aber Barcelona fällt anhand der Indikatoren, an denen ich die Städte als PatientInnen beurteile, überhaupt nicht auf. Die Stadt besteht nicht nur aus dem Teil vor dem Berg, sondern auch aus jenem hinter dem Berg. Da sieht es schon ganz anders aus. 

 

Gibt es denn Städte, bei denen wir uns etwas abschauen können?

Alle unsere Altstädte – wie zum Beispiel die Altstadt von Zürich oder jene in Bern. Alle Städte, die entstanden sind, bevor das Auto die Städte verändert hat, kann man im Wesentlichen als Muster nehmen. Etwas kritischer muss man mit den Städten des 19. Jahrhunderts sein. Da ging der Massstab schon langsam verloren, sie sind aber relativ leicht zu sanieren.

 

In Zürich haben die JungsozialistInnen eine Initiative für eine autofreie Stadt Zürich lanciert. Sie wurde aber für ungültig erklärt, da sie nicht mit übergeordnetem Recht vereinbar sei. Fehlt es da einfach an politischem Willen?

Dieser Versuch ist an der Unfähigkeit der Vorstellung der RichterInnen gescheitert und an der Unfähigkeit, die politischen VertreterInnen einzuschätzen. Der Vorschlag ist nämlich wissenschaftlich absolut richtig und solide. Wir werden nur zu Fuss aus der Klimakrise herauskommen, nicht mit dem Auto. Wenn die RichterInnen und Politiker­Innen sich dessen klar werden, dann müssen sie diese Initiative wieder aufleben und darüber abstimmen lassen. In der Stadt Zürich haben 60 Prozent der Haushalte kein Auto. Dann ist es ja politisch gar kein Risiko. Sie haben ja auch das Geld dazu. Das einzige was fehlt, ist geistige Beweglichkeit.

 

Ganz ehrlich, Sie vertreten sehr ungewohnte und radikale Ansichten. Wie wollen Sie Menschen von Ihren Ideen überzeugen?

Wissenschaft ist immer radikal. Man muss die Menschen durch gute Beispiele überzeugen. Ich mache nicht nur Wissenschaft und Grundlagenforschung, sondern auch praktische Umsetzung. Ich muss dazu die richtigen Partner finden, die meine Ideen für richtig halten und den Mut haben, diese gemeinsam mit der Verwaltung umsetzen zu lassen. Ich brauche sachkundige Verwaltungsleute, die das Gesetz und die Verordnungen in der richtigen Form interpretieren. Irgendwo auf der Welt gelingt es mir immer wieder, sonst würde ich ja verzweifeln. Ich glaube nicht, dass ich den Eindruck eines Verzweifelten mache.

 

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