Gegenvorschlag: Auf dem Weg zum Missbrauch

In der schlechten alten Zeit konnte man an der Urne zu Initiativen nur Ja oder Nein sagen. Im Zuge der Demokratisierung kam das Instrument des direkten Gegenvorschlags hinzu. Der Grundgedanke dabei: Eine Mehrheit eines Rates findet den Grundgedanken einer Initiative zwar bedenkenswert, möchte aber Details anders regeln. Die Initiant:innen haben dann die Wahl: Sie können ihre Initiative zugunsten des Gegenvorschlags zurückziehen oder es auf eine Stichfrage ankommen lassen. Die Stimmberechtigten sagen dann zunächst sowohl zur Initiative als zum Gegenvorschlag Ja oder Nein, wobei man zweimal Ja oder zweimal Nein stimmen kann. Erhält nur die Initiative oder nur der Gegenvorschlag eine Mehrheit, ist das Resultat klar. Kommt es bei Initiative und Gegenvorschlag zu einem Nein, ist die Sache auch erledigt. Wird beides angenommen, kommt die Stichfrage zum Zug, die lautet: Wenn beide angenommen werden, welche von beiden zieht ihr vor?

Die Einführung des Gegenvorschlags hat die demokratischen Möglichkeiten an der Urne erweitert. Natürlich auch die Möglichkeiten der Spekulation und der Taktik. Man konnte einer Initiative schon vor der Möglichkeit der Stichfrage einen Gegenvorschlag offerieren. Die Initiant:innen hatten dann die Möglichkeit, ihre Initiative zugunsten des Gegenvorschlags zurückzuziehen und so den Spatz in der Hand für die Taube auf dem Dach zu nehmen. Die Gegner:innen der Initiative mussten sich überlegen, für wie hoch sie die Wahrscheinlichkeit der Annahme der Initiative einschätzten und ob ein Entgegenkommen nicht sinnvoller oder erfolgsversprechender als eine reine Ablehnung sei. Die Möglichkeit der Stichfrage erweiterte das taktische und auch das demokratische Spektrum: Die Initiant:innen konnten ihre Initiative besser im Spiel behalten, weil die Wahrscheinlichkeit grösser wurde, dass wenigstens der Gegenvorschlag durchkam, und die Gegener:innen konnten mit einem doppelten Nein und einem Ja zum Gegenvorschlag die Initiative bodigen und im schlimmsten Fall abfedern. Damit dieser Mechanismus Sinn ergibt, müssen Initiative und Gegenvorschlag wenigstens einen halbwegs gleichen Grundgedanken haben und nicht lediglich das gleiche Thema bearbeiten, wie es aktuell bei den Initiativen und Gegenvorschlägen zum Wohnungsthema der Fall ist. Mehrere negative Beispiele dafür spielten sich am Montag im Kantonsrat ab, und eines kommt am 30. November zur Abstimmung.

Die Initiative der Grünen fordert eine kantonale Anstalt, die sich mit eigenem Kapital um bezahlbare Wohnungen auch für Personen mit tiefen bis mittleren Einkommen kümmert. Der Kanton soll nach dem Willen der Initiant:innen direkt und indirekt (durch Unterstützung von Gemeinden oder Genossenschaften) selber bauen und vermieten oder dies unterstützen. Das findet die rechte und mittlere Ratsseite einen falschen Weg. Für die einen von ihnen ist dies im besten Fall ein zu teurer Tropfen auf den heissen Stein, für die anderen eine Störung des Wohnungsmarktes. Darüber will ich hier gar nicht streiten. Es ist ihr gutes Recht, diese Initiative als falsches Mittel zu sehen. Weil aber auch sie befürchten, dass sie angesichts der Wohnsituation vor allem für Personen, die eine neue Wohnung suchen, durchaus Chancen an der Urne hat, konstruieren sie einen Gegenvorschlag: Der Kanton soll in der Verfassung gute Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau festhalten, und damit man dies glaubt, soll er auch verpflichtet sein, entsprechende Gesetze innert drei Jahren zu präsentieren. Das ist, um dies ganz klar zu sagen, inhaltlich durchaus legitim. Nur enthält dieser Gegenvorschlag nichts, was der Kanton nicht bereits jetzt kann, respektive schon lange kann, ohne dass er es gemacht hat. Er kann ohne Verfassungsänderung das Bauen vereinfachen, er kann Mischzonen in der Raumplanung für das Wohnen weit öffnen, ohne dass er die Verfassung ändern muss. Das Problem ist nicht, dass die Mehrheit des Kantonsrats die Initiative ablehnt, aber dass sie ihr einen Gegenvorschlag entgegenstellt, der zum Inhalt hat, «wir machen bald, was wir längst hätten machen können». Das Versprechen, bis spätestens in drei Jahren die entsprechenden Gesetze vorzulegen, kann man (oder muss man eher) so lesen: Wir lassen es weitere drei Jahre beim Alten.

Bei der Wohnschutzinitiative präsentierte Donato Scognamiglio einen echten Gegenvorschlag: Das vorgesehene Mietmaximum für einige Jahre nach der Renovation soll laut ihm nur für Sanierungen ab 20 Wohnungen gelten und nur in Gemeinden mit einem Leerwohnungsbestand von unter 0,5 Prozent infrage kommen. Dieser Vorschlag hätte genauso wie die Initiative die Leerkündigung der Sugus-Häuser deutlich erschwert bis verunmöglicht. Der Gegenvorschlag von FDP und SVP hingegen würde für die Besitzerin der Sugus-Häuser nur die administrativen Umtriebe etwas erhöhen, aber den Mieter:innen nichts bringen, was das Mietrecht ihnen nicht bereits ermöglicht.

Am 30. November stimmen wir über das Vorkaufsrecht der Gemeinden für Liegenschaften ab und über den Gegenvorschlag der Kantonsratsmehrheit für eine Erhöhung des kantonalen Wohnbauförderungskredits von 180 auf 360 Millionen Franken. Gemeinsam haben Initiative und Gegenvorschlag eigentlich nur den Titel «Mehr bezahlbare Wohnungen im Kanton Zürich». Die Initiant:innen gehen gegen dieses Entweder-Oder bei einer Abstimmung, bei der zwei sehr verschiedene Sachen gegeneinander gestellt werden, die sich eher ergänzen als ausschliessen, gerichtlich vor. Wie das Gericht vor allem auch aufgrund des nicht gerade sehr glücklichen Titels der Initiative entscheidet, ist noch offen.

Ich will auch einen Fall erwähnen, bei dem die linke Ratsseite den Gegenvorschlag tendenziell missbraucht: Zwei SVP-Kantonsräte wollen mit dem besseren Abzug der Kosten für die Krankenkassenprämie bei den Steuern bewusst den Mittelstand entlasten. Der Gegenvorschlag verlangt einen direkten Abzug bei den Steuern. Damit fahren Personen mit tiefen Einkommen eindeutig besser. Ich finde das inhaltlich gut, aber es ist ziemlich das Gegenteil von dem, was die Initianten verlangen und darum nur sehr bedingt ein vertretbarer Gegenvorschlag. Politik sollte auch davon leben, dass die Positionen klar sind und über echte Alternativen abgestimmt werden kann. Gegenvorschläge, die einzig dem Zweck dienen, eine Initiative zu verhindern und nichts oder etwas ganz anderes ändern wollen, schaden langfristig, auch wenn sie vielleicht kurzfristig Erfolg haben. Am 30 November hoffentlich nicht.