Gegen (all)gemeine Besserwisserei

Was aus der Corona-Krise zu lernen ist? Nebst vielem anderen dies: Politik muss in Krisenlagen meist ohne absolute Sicherheit handeln – nach bestem Wissen und Gewissen. Dazu ein paar kleine Bücher mit klugen Fragen sowie eine Zeitschrift, bei der sich über Wahrheiten streiten lässt.

 

von Hans Steiger

 

Sie können aus dieser Reihe getrost jedes Buch kaufen.» Was der Reclam-Verlag beim Vorstellen der Herbst-Neuerscheinungen seiner «kleinen Bücher zu den grossen Fragen» aus der ‹Frankfurter Rundschau› zitiert, kann ich genau so getrost weitergeben: Keiner der Essays, die mit dem seltsamen, in eckige Klammern gesetzten Serientitel «[Was bedeutet das alles?]» und eigenwilliger Strichcode-Grafik daherkommen, hat mich enttäuscht. Mit ein Grund, auch das im Mai pu blizierte ‹Covid-19›-Bändchen zu bestellen.

 

Philosophisches in unsicherer Zeit

 

Es (ent)hält, was sein Untertitel verspricht: «Philosophie in Echtzeit». Die beiden Autoren, in einer interdisziplinären Forschungsgruppe bereits intensiv mit dem Thema Corona befasst, schrieben ihre gut hundert Seiten starke Betrachtung diesen April in nur einer Woche. Sie hatten sich schon zuvor mit philosophischem Ansatz mit Katastrophenrisiken auseinandergesetzt und im März für den sogenannten Shutdown plädiert, weil sie ihn ethisch für unausweichlich hielten. Das wird sorgfältig begründet. Dass unter Experten in etlichen Punkten kein Konsens bestand, konnte kein Anlass für den Aufschub präventiver Massnahmen sein. Ja, im Zweifel wäre sogar einer pessimistischen Minderheit zu folgen. Für die Mehrheit stelle sich in so einem Fall stets die Frage: «Was wäre, wenn wir falsch liegen sollten?» Dies ist in unsicheren Zeiten wohl der wichtigste aller Zweifel.

 

Schulschliessungen? Maskenpflicht? Handy-Apps? Hier derartige Zwiespälte mit aktuellen Beispielen vorgeführt zu sehen, ist spannend und weckt auch Verständnis für scheinbar inkonsequentes Handeln. Fehleinschätzungen sind potenziell hochgefährlich. Es muss möglich sein, aufgrund neuer Erkenntnisse die Meinung zu ändern, ohne dadurch seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Recht behalten wird ja im Urteil der Alles-immer-besser-Wissenden ohnehin niemand: Präventionsarbeit erscheint stets «entweder schlecht oder überflüssig». Tritt ein Schaden ein, war sie offenbar nicht wirksam genug. Passiert nichts, hätte man sich die Mühe sparen können, eben weil am Ende nichts passiert ist. Dies sei auch beim Streit um das Impfen oder bei der Terrorismusbekämpfung nicht anders.

 

Denkanstösse über Corona hinaus

 

Wenn im akuten Fall von Corona das Schlimmste abgewendet ist, beginnt eigentlich erst die politische Arbeit. «Wir müssen als Gesellschaft klären, wie wir mit der Krise mittel- und langfristig umgehen wollen.» Vor allem dazu will dieser Essay denn auch «philosophische Debattenanstösse» liefern, und zwar «über den gegenwärtigen Katastrophenfall hinaus». Schon auf dem Umschlag werden die «Klima- und KI-Risiken» angesprochen. In beiden Fällen gab es früh genügend Warnsignale, die für ein Nachdenken auf Vorrat, also das Entwickeln präventiver Zukunftsstrategien sprachen. Warten wir jetzt noch weiter zu, gehen wertvolle Optionen verloren. Bei der Künstlichen Intelligenz mag vieles für viele nach Science-Fiction klingen. Aber «wie wir die Dynamik der gegenwärtigen Pandemie unterschätzt haben», dürfte sich bald auch im Bereich der neuen Technologien das katastrophale Potenzial zeigen. Wer auf diesen profitversprechenden Markt will, gibt seinen Entwicklungsvorsprung kaum wegen Sicherheitsbedenken preis.

 

Brennend aktuell wirkt im Schlussteil vor allem die erste Passage, in der es um das Phänomen der «Zoonosen» geht. Sie knüpft direkt bei Covid-19 an, wo als Quelle ein Fleischmarkt in China vermutet wird. Auch frühere Übertragungen von gefährlichen Krankheitserregern von Tieren auf Menschen sind bekannt. Von deutschen Schlachthöfen war bei Erscheinen des Bändchens noch kaum öffentlich die Rede. Hier schon: «Der gegenwärtige Tierkonsum erhöht das Übertragungsrisiko auch aufgrund der gewaltigen Anzahl an Schlachttieren, die einen historischen Höchststand erreicht hat.» Allein schon die Massentierhaltung verursache permanenten Stress und schwäche das Immunsystem der Tiere, was neue Virus-Generationen quasi als «Evolution im Zeitraffer» entstehen lasse. Also die Massentierhaltung verbieten? Ja! Die radikal klare Antwort bezieht sich primär auf Gesundheits- und Klimaprävention. Aber ein Hinweis auf die «tierethische Kata­strophe» fehlt nicht.

 

Mit der falschen Krise befasst?

 

Noch während ich am Lesen dieser Abhandlung war, traf die jüngste ‹Zeitpunkt›-Ausgabe ein. Die seit fast drei Jahrzehnten von Christoph Pfluger in Solothurn verlegte, mit Vorliebe nonkonformistisch auftretende Zeitschrift, kommt jetzt in Buchform und mit entsprechend mehr Selbstbewusstsein daher. Das ist nicht für den Altpapierstapel, eher als bleibendes Zeitdokument fürs Regal gedacht. Ein provokatives Cover setzt quasi den Kontrapunkt zum medialen Mainstream: «Corona – das riesige Nichts.» Auch wenn daraus im Editorial «fast ein Nichts» wird, gibt sich der Herausgeber als einsamer Aufklärer, der «kolossalen Fehldiagnosen», mächtigen Impfstoff-Investoren samt Gefolge entgegentritt. Er kritisiert «ratlose Regierungen, die ihre Verfassungen durch virologische Hochrechnungen ersetzt haben», räumt jedoch selbst ein, im Krisenmodus seien fast täglich Entscheidungen nötig, «für die man nicht auf belastbare Erfahrungen bauen kann». Umso wichtiger sei es, die Perspektive zu wechseln, «einen erhöhten Standpunkt» einzunehmen und das Ganze von oben zu betrachten. Wie zeigt sich ihm dann unsere Welt? «Man sieht eine zerrissene Menschengesellschaft in grösster Ungleichheit und einem pseudodemokratischen Korsett.» Das mag als pauschale Feststellung nicht falsch sein. Nur wirkt danach umso kleinkarierter, was konkret zum Corona-Thema folgt. Experten werden gegen Experten gestellt, Zahlen angezweifelt oder relativiert; noch der kleinste Widerspruch wird zum gefundenen Fressen. Zuweilen schleicht sich sogar Zynismus ein. Es sterben doch nur sehr wenige wirklich gesunde Menschen. Gegen ein lebensfeindliches, selbst privates Berühren beschränkendes Sicherheits-Mantra wird weise erhaben argumentiert, wir müssten ja alle einmal sterben und wüssten das auch. «Ein gerettetes Leben bedeutet eigentlich einen aufgeschobenen Tod.» Und warum wird nicht mit gleicher Konsequenz gegen den Hunger in der Welt oder den ökologischen Kollaps gekämpft?

 

So richtig es ist, noch weit umfassendere Zukunftsaufgaben in die Debatte um jetzt zu treffende Entscheidungen einzubeziehen: Die polemische Gegenüberstellung ist zu billig und zugleich gefährlich schief. Die eingeschobenen Bilder von Demonstrationen für die Wiederherstellung unserer «Freiheit» illustrieren zudem ein ganz anderes Kampffeld. Wer protestiert da eigentlich gegen wen? Auch einige der Beiträge zeigen, wie diffus die vom ‹Zeitpunkt› aktiv mitinszenierte Bewegung ist. Beiläufig wird eine neue Partei propagiert: «Widerstand 2020 – deine Mitmach-Partei» soll in Deutschland schon zwei Wochen nach Gründung über 60 000 Mitglieder haben. «Die fünf Stufen des Zusammenbruchs», die ein russisch-US-amerikanischer Autor skizziert und mit Tipps zum Überleben garniert, sollen «wegweisend» sein. Mir fiel dazu spontan der böse Begriff der Scharlatanerie ein. Dann auf dem kartonierten Rücken noch «Die zehn Corona-Gebote», ein Wunschkatalog inklusive Bodenreform oder Grundeinkommen. Thema verfehlt! Einmal allerdings wurde ich höchst unsicher: «Bill Gates’ globaler Impfstoff-Plan» – entlarvt von «Robert Francis Kennedy Jr.» Viele schockierende Zahlen und Fakten. Fakten? Bei der Recherche zeigten mehrere mir glaubwürdige Quellen, dass die Enthüllungen schon alt und weitgehend widerlegt sind. Verschwörungstheorie pur? Christoph, alter Kumpel, in der Corona-Geschichte hast du dich wohl wirklich verrannt.

 

Misstrauen als zwiespältige Macht

 

Trotzdem ist es richtig, dass solche Stimmen präsent sind. Denn das sich epidemisch ausbreitende Misstrauen muss thematisiert werden, um es positiv wirksam zu machen. Das strebt Florian Mühlfried an, wenn er über den «Wert eines Unwertes» philosophiert. Misstrauen schliesse zivilgesellschaftliches Engagement nicht aus, gehe ihm meist gar voraus: «Nicht nur ohne Vertrauen, auch ohne Misstrauen kann Demokratie nicht bestehen.» Unreflektiert sei es Gift für jede Gemeinschaft; konstruktiv genutzt könne es eine emanzipatorische, ja geradezu revolutionäre Macht sein. In westlich geprägten Staaten gingen daraus etwa Pressefreiheit und ins­titutionelle Gewaltenteilung hervor.

 

Besonders interessant ist, was der Autor aus seinem eigentlich eher entlegen wirkenden Fachgebiet einbringt. Er studierte Ethnologie, ist Sozialanthropologe «und Spezialist für den Kaukasus», war unter anderem Gastdozent in Georgien. Eines der eindrücklichsten Beispiele ist die Schilderung einer Vorlesung, für die ihn eine staatliche Universität nach Kasachstan eingeladen hatte. Ihm wurde der Veranstaltungsraum «mit allerlei Hightech» vorgeführt. «Ein armenischer Kollege wies mit dem Zeigefinger auf eine Kamera, die im Hintergrund lautlos vor sich hin schwenkte.» An der Decke hingen acht Mikrophone. Was da für wen aufgenommen wurde, konnte niemand sagen. «Mein Misstrauen war geweckt.» Mühlfried änderte spontan und ohne Ankündigung den Inhalt seines Vortrages, sprach seine Verunsicherung an. Worauf ein Student rief: «Welcome in Kazakhstan!» Einer der lokalen Organisatoren der Konferenz verliess umgehend den Raum. «Ich war irritiert, einige Zuhörer wirkten eingeschüchtert.» Doch die offene Auseinandersetzung konnte beginnen.

 

Anhand der in Georgien sprichwörtlich hochgehaltenen Gastfreundschaft wird auch das Umgehen mit dem Misstrauen gegenüber Fremden erörtert. Gerade hier wird der zuerst exotisch anmutende Modellfall aufschlussreich. Wie lässt sich angesichts hoher kultureller Schwellen wirklich Vertrauen schaffen? Auch aktuell Kontroverses aus unseren Breiten bleibt im Blick. Der mit Misstrauen gegenüber Fremdem mobilisierende Populismus zum Beispiel wird explizit auch in der Schweiz verortet, obschon hier die direkte Demokratie stark ausgeprägt sei. Da gäbe es eben eine «problematische Schnittmenge». Sogar an Corona lässt sich denken, wenn vom Misstrauen als einem Virus die Rede ist, der uns schwäche und auch «hervorragend zur Durchsetzung totalitärer Herrschaftsverhältnisse» geeignet sei. Weil dieses Bändchen bereits im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, stelle ich hier allerdings zweifelhafte Bezüge her.

 

Für eine mutige, offene Streitkultur

 

Auch zwei weitere, leider nur noch kurz zu erwähnende Versuche zur schwierigen Suche nach Wahrheit sowie über das mehr oder minder bewusste Lügen, sind schon im Herbst 2019 erschienen, wirken aber alles andere als alt. «Die Wahrheit schafft sich ab» – an was erinnert das? – enthält im Titel ein subtil manipulatives Element, das später offengelegt wird. Stichwort: Thilo! Hauptanliegen dieser Publikation zweier Mitglieder des deutschen ‹Forums für Streitkultur›, die sich auch wissenschaftlich mit sogenannten Fake News und mit Populismus beschäftigen, ist die Ermutigung zum offenen Argumentieren. Es wäre wichtig, Behauptungen zu widersprechen, die man für falsch hält. Sonst kann sich selbst Abwegigstes leicht weiter verbreiten und eine nicht hinterfragte Minderheitsmeinung zu einer von Mehrheiten getragenen Grundströmung werden. Mit der entschiedenen, gut überlegten Intervention wird nicht Polarisierung gesucht. «Man muss nicht mit allen reden, aber mit den allermeisten.» Sinnlos wird das bei offensichtlich nicht Dialogbereiten oder Demokratiewilligen. Doch von modischen Filterblasen-Theorien, die offenen Gesprächen kaum Chancen einräumen, halten Romy Jaster und David Lanius wenig. Dafür gebe es kaum empirische Belege.

 

Geert Keil, der sich als Berufsphilosoph eher lockere Gedanken «über die menschliche Fehlbarkeit» erlaubt, sieht zwar die Differenz zwischen der absichtlichen Täuschung und dem unwissentlichen Irrtum, aber keine klare Grenze. Ohne ein Korrektiv droht die Gefahr, in «Fehlwahrnehmungen» gefangen zu bleiben. Auch «ein Nebeneinander von politischen oder moralischen Selbstgewissheiten» könne zur ideologischen Verblendung führen und Erkenntnisse behindern. «Jeder möchte gern Recht haben, doch gerade Rechthaberei, zumal kollektive, steht dem Rechthaben im Weg.» Wer hätte keinen Grund, sich das hinter die Ohren zu schreiben?

 

Nikil Mukerji / Adriano Mannino: Covid-19. Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit. Reclams Universal-Bibliothek, Band 14053. Ditzingen 2020, 120 Seiten, 8.90 Franken.

 

Corona – das riesige Nichts. Beiträge von Christoph Pfluger u.a. Zeitpunkt / Ausgabe 165, Solothurn 2020, 127 Seiten, 15 Franken.

 

Florian Mühlfried: Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes. RUB 19600, 2019, 88 Seiten, 8.90 Franken.

 

Romy Jaster / David Lanius: Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen. RUB 19608, 2019, 129 Seiten, 8.90 Franken.

 

Geert Keil: Wenn ich mich nicht irre. Ein Versuch über die menschliche Fehlbarkeit. RUB 19639, 2019, 96 Seiten, 8.90 Franken.

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